salt and pepper: X-Sports: Die coole Seite der Winterspiele
Der Prophet und die Halfpipe
Als am Donnerstag die Sportlerinnen und Sportler im Olympischen Dorf Pernilla Wiberg, Manuela di Centa, Jari Kurri und Arne Sodral als Athletenvertreter ins Internationale Olympische Komitee (IOC) wählten, gab es zwei Leute, die wohl ziemlich chancenlos gewesen wären, wenn sie kandidiert hätten: Rintje Ritsma und Jonny Moseley. Der niederländische Eisschnellläufer wurde kürzlich gefragt, was er von den Reformen des IOC-Präsidenten Jacques Rogge halte. Antwort: „Welcher Rogge? Samaranch ist doch der Präsident.“ Nachdem er aufgeklärt worden war, ließ sich Ritsma immerhin zu einem quasipolitischen Statement hinreißen: „Ich kenne den Typen zwar nicht, aber ich hoffe, er hat nicht nur Ideen, sondern setzt sie auch durch.“ Moseley, der glamouröse Snowboarder, entgegnete auf die Frage, was er tun würde, wenn er IOC-Präsident wäre, munter: „Ausschlafen!“
Willkommen in der Welt der modernen Winterspiele, die nicht mehr von eisbezapften Rübezahls aus nordischen Wäldern oder von österreichischen Pistenpummeln dominiert werden, sondern von den ausgeflippten Protagonisten der Extreme Sports, die auch bei Olympia vor allem eine „gute Zeit haben“ und „mit Kumpels herumhängen“ wollen, wie Halfpipe-Sieger Ross Powers betont.
Vor allem die USA profitiert von diesem Trend, rund die Hälfte der Rekord-Medaillenausbeute bei diesen deutsch-amerikanischen Winterspielen kommt, wenn man die entfernten Verwandten Short Track und das wieder eingeführte Skeleton hinzurechnet, von den neueren Sportarten. Aufgenommen ins olympische Programm wurden diese, man glaubt es kaum, vor allem dank Juan Antonio Samaranch, der die Verjüngung der Spiele bereits zu einer Zeit betrieb, als die meisten Wintersportverbände noch jede Berührung mit den verdächtigen Teenagern auf ihren merkwürdigen Brettern scheuten. In den USA gewöhnt man sich langsam daran, dass die mit Goldmedaillen behangenen Helden nicht mehr nur brave College-Studenten oder Armeeangehörige sind, die später mal Unternehmensberater oder Doktoren werden wollen, sondern seltsame Kids wie der eindeutig verhaltensgestörte Neo-Goth-Snowboarder Danny Kass oder kichernde und quietschende Teenies wie die angeblich 21-jährige Skeleton-Siegerin Tristan Gale, von der man aber annehmen muss, dass sie sich etwa sieben Jahre älter gemacht hat, damit sie bei Olympia starten darf.
Vor allem der 19-jährige Halfpipe-Hero Danny Kass, dessen eigenes Unternehmen Handschuhe mit seinem persönlichen Logo, einer verwesenden Leiche, verkauft, hat es den Medien angetan. Nachdem er beim Medaillensweep der USA Silber geholt hatte, machte es auch nichts mehr, dass er gelegentlich aus Räumlichkeiten seiner Sponsoren geworfen wird, weil er in die Ecke pinkelt, sich dauernd über Olympia lustig macht, des Drogenkonsums nicht unverdächtig ist und permanent unartikulierte Schreie ausstößt.
Natürlich gibt es auch bravere Vertreter der neuen Sportarten, die sogar den nach Rührseligkeit trachtenden Teil der amerikanischen Öffentlichkeit bedienen, wie Snowboarder Chris Klug, der eine Lebertransplantation hinter sich hat, oder Skeleton-Sieger Jim Shea, der die Eisschnelllauf-Goldmedaille seines kurz vor den Spielen verstorbenen Großvaters von 1932 zur Siegerehrung mitbrachte. Die meisten sind jedoch nach wie vor Jugendliche, welche in den Vorstädten äußerst misstrauisch beäugt würden, wenn die Kinder sie ins Haus brächten. Bei Olympia spielt das aber keine Rolle, denn dort zählen in erster Linie Medaillen. „Also, diese Halfpipe-Sache“, schwärmte sogar der 91-Jährige Gordon Hinckley, Prophet und damit Oberhaupt der Mormonenkirche, „das kannte ich vorher nicht. Ich habe es sehr genossen.“ Und Bill Marolt, Präsident des Skiverbandes der USA, schwänzte das letzte Abfahrtsrennen seiner langjährigen Paradeathletin Picabo Street, um Jonny Moseley über die Buckelpiste hoppeln zu sehen.
Seit den 80er-Jahren sind die X-Sports, wie die Extrem-Sportarten bündig genannt werden, ständig gewachsen, dennoch haben sie sich eine gewisse Unabhängigkeit bewahrt. Viele Spitzencracks wie Danny Kass oder Buckelpisten-Olympiasieger Janne Lahtela vertreiben ihre eigenen Produkte, man kennt sich, Sponsoren kamen bisher meist aus der Szene, auch wenn Disney mit seinem Sender ESPN, der die X-Games (vormals Extreme Games), die wichtigste Veranstaltung der Szene, ausrichtet und überträgt, längst den Fuß in der Tür hat. Die olympische Publicity hat jedoch manches geändert. „Sponsoren, die sich bisher nur um Eiskunstlaufen gekümmert haben, wollen jetzt beim Snowboarding dabei sein“, sagt Peter Carlisle von der bedeutenden Sportmarketingagentur Octagon.
Nicht alle Mitglieder der Szene sind glücklich über diesen Einbruch in ihre Welt und über Snowboarder, die mit der Hand auf dem Herzen und der Medaille um den Hals zur Nationalhymne stramm stehen. Sie halten es eher mit Jonny Moseley, der es ablehnte, ein Buckelpistenprogramm zu präsentieren, das ihm ziemlich sicher eine Medaille gebracht hätte, weil es ihm zu langweilig war. Das ist, als würde Anni Friesinger auf einen schnelleren Schlittschuh verzichten, weil ihr das Design nicht gefällt. Moseley wählte eine innovative Variante und wurde nur Vierter hinter drei konservativ laufenden Konkurrenten. Puristen feiern dies als wahren X-Spirit, aufhalten werden sie die Entwicklung der X-Sports zum Mainstream jedoch nicht. Ron Semiao, einer der Gründer der Extreme Games, verkündete in der Zeitung USA Today: „Sie sind für den Sport, was Rock ’n’ Roll für die Musik war.“
MATTI LIESKE
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