rücktritt in den haag: Srebrenicas späte Folgen
Als 1995 durchzusickern begann, welche furchtbaren Fehler die Srebrenica-Schutztruppe Dutchbat gemacht hatte, veränderte sich auch das Bild der Niederländer von sich selbst. Zuvor herrschte hier meisterliche Verdrängung. Plündernde Kolonialmacht über Jahrhunderte? Kein Thema. Die aktive Kollaboration mit den deutschen Besatzern? Das Verschwinden jüdischer Vermögen in holländischen Händen? Schweigen. Der brutale Krieg gegen die Unabhängigkeit Indonesiens? Nur ein Trauma zurückgekehrter Soldaten. Tief von der protestantischen Gewissheit beruhigt, dass Gott wohl nicht zürne, wem er einen solchen Wohlstand erlaube, hat die niederländische Mehrheitsgesellschaft eine Selbstzufriedenheit kultiviert, die in Westeuropa einzigartig war. War. Denn das Massaker von Srebrenica, von serbischen Tschetniks unter den Augen der niederländischen Soldaten begangen, hat diese Überheblichkeit tief erschüttert.
Kommentar von DIETMAR BARTZ
Die Kriege in den Nachfolgeländern des alten Jugoslawiens haben die politischen Systeme in Westeuropa nicht wirklich berührt – weder die ethnischen Vertreibungen noch die jahrelange Untätigkeit angesichts der Beschießung Sarajevos. Insofern ist es ein später Trost, dass das Massaker von Srebrenica nach Jahren wenigstens noch zum Rücktritt einer westeuropäischen Regierung taugt – und hoffentlich zum Ende mancher Karriere der damals Verantwortlichen. Kein Zufall, dass es gerade die Niederlande erwischt: Hier ging es vor dem Einsatz am allerwenigsten um Verantwortung und Sorgfalt. „Politischer Ehrgeiz“ attestiert der Untersuchungsbericht, der jetzt den Rücktritt auslöste, der Regierung – und kann doch nicht umhin, der Mission entschuldigend das Prädikat „praktisch nicht durchführbar“ zuzugestehen.
Das Projekt der niederländischen Regierung, sich trotz des Berichtes noch über die nächsten vier Wochen zu retten und Konsequenzen aus Srebrenica erst nach den Wahlen zu ziehen, ist gescheitert. Rücktritte reinigen das System. Das ist kein später Triumph politischer Moral – zu schäbig hat das Kabinett auf Zeit gesetzt –, sondern Ausdruck des gesellschaftlichen Drucks. Doch scheint die Zeit der Selbstkritik fast schon wieder vorbei. So könnte der Populist Fortuyn wohl zum Hauptgewinner der Wahlen werden – sein nationalistisches Programm bietet an, die Niederlande wieder zu einer Insel der Selbstzufriedenheit zu machen. Mehrheitsfähig wird das nach Srebrenica hoffentlich nicht mehr sein.
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