: "Nach Solingen: Ausländer - wehrt euch!"
■ Ein Aufruf von Ralph Giordano: "Es ist an uns, zu handeln!"
Solingen und alles, was dieser Name heute symbolisiert und materialisiert, hat uns bestätigt: die rassistische Bestie lebt im Deutschland des Jahres 1993 ungebrochen weiter! Wer geglaubt hatte, es träte, gemessen an den Jahren 1991/92, so etwas wie auch nur relative Ruhe ein, der muß sich spätestens jetzt seinen Irrtum eingestehen. Mit diesen fünf Morden hat es endgültig fünf Minuten nach zwölf geschlagen.
Und sie geschahen wenige Tage, nachdem der regierungsamtliche Beschwichtiger und staatsoffizielle Schönredner Helmut Kohl in Istanbul die Stirn hatte zu erklären: „Türken sind in Deutschland beliebt!“ ... Da hatten die Mörder von Solingen schon ihre Brandkanister gefüllt und ihren Todesplan bis ins einzelne ausbaldowert.
Während der unsägliche Herr Bossi, ohne jede Ehrfurcht vor den anwesenden Hinterbliebenen der drei ermordeten Türkinnen von Mölln, bei seiner „Verteidigung“ Täter zu Opfern und Opfer zu Tätern umfunktionieren durfte, waren die Toten und vielen Verletzten vom 29. Mai 1993 schon im Visier einer neuen Täterschaft.
Nun ist es genug, es ist übergenug!
Deshalb: Schluß mit der Defensive gegenüber dem alten und neuen Braungesindel, Schluß mit der Leisetreterei gegenüber potentiellen und faktischen Mördern! Schluß mit jeglichem Vertrauensrest in Politiker, die auch nach 25 Toten immer noch nicht bereit sind, die volle Wucht der staatlichen Gewalt gegen die rechtsextremistischen Gewalttäter zu kehren – so wie sie gegen die terroristische Linke gekehrt werden konnte: da ging's! Lassen Sie uns mit ganzer Kraft aufstehen gegen alle, die privat oder von Amts oder Staats wegen die Bedrohung durch rassistische Deutsche verniedlichen wollen, sie immer noch zu bagatellisieren oder zu minimalisieren versuchen. Lassen Sie uns unbeeindruckt sagen, schreiben, schreien: im Deutschland des Jahres 1993 steht der Feind rechts – rechts, rechts, rechts! Und da die Verantwortlichen bis heute daraus die notwendigen Schlüsse nicht gezogen haben; da nach wie vor der Staatsapparat und die Sicherheitsorgane lendenlahm reagieren; die rechten Gewalttäter wie ungezogene Verwandte behandelt werden, und der Dschungel von fast hundert nazi-nahen oder nazi- identischen Organisationen mit ihren Print-Imperien und finanzstarken Förderern legal weiterexistieren dürfen – da all das geschieht, ist es an uns, zu handeln.
Verlassen wir uns also nicht mehr auf die Organe einer politischen Herrschaft, die offenbar unfähig und unwillens ist, sich von rechts bedroht zu fühlen.
Darum noch einmal: heraus aus der Defensive! Die Lichterketten fortgesetzt mit unserer offensiven Reaktion gegen jedes Zeichen von Rassismus, Ausländerhaß, Antisemitismus und Behindertenfeindlichkeit, wo immer wir ihnen begegnen! Wo immer sich solche Stimmen vernehmen lassen, wir haben ihre energischen Widersacher zu sein!
Stellen wir dem gewöhnlichen, dem schwelenden, zündelnden, dem mordenden Nazismus von heute unsere bürgerliche Courage entgegen, die wachsame Humanität des Alltags! Reißen wir den hirnlosen Schlagetots und ihren organisatorischen und finanziellen Hintermännern das Argument aus der Hand: „Wir sind das Volk“, schaffen wir Zustände, die keinen Zweifel daran lassen: „Wir sind die Stärkeren“!
Da in der Menschenfeindlichkeit des Ausländer- und Fremdenhasses stets auch Antisemitismus enthalten ist, hatte ich am Morgen nach Mölln, am 23. November 1992, an Kanzler Kohl geschrieben: Wenn der Staat uns seine Organe uns nicht schützen können, dann müssen wir unseren Schutz und den unserer Familien in die eigenen Hände nehmen.
Der Kanzler hat daraufhin zwei Tage später im Bundestag erklärt: Wer dieser Aufforderung folge, der werde „die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommen“.
Also genau d i e Härte, die die rechtsextremistischen Gewalttäter bis heute nicht zu spüren bekommen haben. Diesem Manne ist nicht mehr zu helfen – er muß weg.
Aber ich wiederhole: ich bin kein jüdischer Pistolero, es war kein allgemeiner Aufruf, zu den Waffen zu greifen. Ich habe, nach den Lehren der Geschichte, nichts anderes gesagt als: Wir Überlebenden des Holocaust und unsere Angehörigen, wir werden unseren Todfeinden nie wieder wehrlos gegenüberstehen – niemals! Und der Schwur bleibt, solange der Todfeind bleibt.
Heute, wenige Tage nach Solingen, fordere ich d i e Ausländer in Deutschland auf, (ja, d i e – da es jeden und jede von ihnen treffen kann): Wehrt Euch, laßt Euch von deutschen Verbrechern nicht abfackeln, duldet nicht, daß Sie Eure Mütter, Eure Väter, Brüder, Schwestern, Söhne und Töchter töten! Seid vorbereitet, wenn sie kommen, erwartet, daß sie kommen könnten – heute Nacht, morgen Nacht und lange noch! Empfangt sie, wie diese Nachtschatten es verdient haben, und entlarvt sie dann durch Eure Gegenwehr als das, was sie sind: laufschnelle Feiglinge, denen nichts wichtiger ist als die Unversehrtheit des eigenen Leibes, Kreaturen einer anonymen Finsternis, der Ihr sie zu entreißen habt. Nehmt sie fest, denn auf die Polizei könnt Ihr nicht warten.
Ausländer in Deutschland, wehrt Euch – endlich!
Als es galt, Starke gegen die Mörder von der RAF zu schützen, Industriekapitäne, Manager, Bankiers, Politprominenz, da gab es staatlicherseits Hunderte Observationen von Personen und Gebäuden, da stand das Gewaltmonopol Gewehr bei Fuß, da war nichts zu teuer, nichts zu kostspielig. Jetzt, da Schwache zu schützen wären, Menschen ohne Einfluß und Macht, da ist von solchem Schutz nichts zu spüren.
Deshalb: bewacht Eure Heimstätten selbst und fordert Deutsche auf, mit Euch zu wachen – es werden sich ihrer, da bin ich sicher, genug anfinden. Zeigt den Brandstiftern die Zähne, wenn sie kommen, und wenn sie Euch angreifen, dann verteidigt Euch und schlagt sie in die Flucht – denn Ihr handelt in Notwehr.
Es ist Euer verdammtes Recht, Euren Schutz selbst zu besorgen, wenn der Staat Euch nicht schützen kann. Kein Gehör den Klugscheißern, die selbst unbedroht sind, aber weise Ratschläge erteilen wollen. Kein Gehör nach Solingen mehr denen, die uns weismachen wollen, im „Rechtsstaat“ habe man sich lieber von seinen Todfeinden abschlachten zu lassen, ehe man Überlegungen des Selbstschutzes anstellen darf. Nicht diese Überlegungen sind das Delikt – das Delikt sind jene Zustände, die solche Gedanken hervorgerufen haben.
Niemals hätte ich bei meiner Befreiung am 4. Mai 1945 in Hamburg geglaubt, fast fünfzig Jahre später ein Deutschland vorzufinden, das jüdischen Selbstschutz erzwingt, und das mich veranlaßt, bedrohte Ausländer eben dazu zu ermutigen. Aber das Unglaubliche ist geschehen, und wir müssen uns ihm stellen.
Das war es, was ich sagen wollte, in Trauer um fünf weitere Tote und in zorniger Bereitschaft, der braunen Alt- und Neupest in Deutschland solange Paroli zu bieten, bis s i e die endgültige Verliererin der Geschichte sein wird.
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