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INTERVIEW"Man soll uns doch anklagen"

■ Henri Lefebvre, marxistischer Philosoph, gehört zu den wenigen Prominenten, die sich für die Hungerstreikenden einsetzen / "Die öffentliche Meinung ist von den Sozialisten befriedet" He

Henri Lefebvre ist zweifellos einer der größten französischen Marxisten. Sein Nahme wird in einem Atemzug mit Marcuse und Althusser genannt. Der Philosoph und Soziologe verlies 1958 aufgrund der Geschehnisse in Ungarn die KPF und gehörte dann als Professor an der Universität Paris-Nanterre zu den Lehrern Cohn-Bendits und den ordenkern des Mai 68. Mit der „Kritik des Alltags“, die Anfang der siebziger Jahre erschien, versuchte er die marxisitsche Kritik auf die Höhe der neuen sozialen Bewegungen zu stellen. Heute ist Levebvre gemeisnam mit seiner Frau Verfasser eines Solidaritätsappells, mit den Gefangenen von Action Directe, der durch seine Radikalität glänzt und die französische Linke provoziert. Dort heißt es: „Wir ziehen es vor, als objektive Komplizen der AD-Terroristen betrachtet zu werden, als uns durch unser Schweigen af der Seite ihrer Unterdrücker wiederzufinden.“

taz: Mit Ihrem Appell treten Sie als letzter großer französischer Intellektueller auf, der den Esprit Sartres nicht verloren hat. Der Esprit des Engagements, ...

Henri Lefebvre: ..., des Zweifels, der Kritik, die radikal zu sein versucht, des Protests. Selbst die Erklärungen der Menschenrechtsliga sind kraftlos, schlaff. Wir tun, was wir können. Aber wir müssen zugeben, daß wir ziemlich isoliert sind. Das beste, was uns passieren könnte, wäre, daß man uns anklagt. Glauben Sie, daß sie es wagen würden, mich ins Gefängnis zu stecken?

Nein. Warum stehen Sie heute allein?

Die öffentliche Meinung in Frankreich tendiert zur Zeit zur Befriedung, zur Ruhe, zur Sicherheit. Man hat dermaßen viel über Sicherheit geredet, bis zu dem Punkt, daß daraus eine schreckliche Geschichte geworden ist. Der Terrosismus hat einen Doppeleffekt. Einerseits alamiert er die Öffentlichkeit in wichtigen Fragen, auf der anderen Seite dient er als Vorwand für einen repressiven Apparat. Der aber wird heute von großen Teilen der Bevölkerung befürwortet. Die einfachen Leute haben heute Angst, eine Bombe in ihrem Mülleimer zu finden. Die öffentliche Meinung wird in diese permanente Angst getrieben, in diese ständige Suche nach Sicherheit, so weit daß sich die materielle Sicherheit in undeutlicher Art und Weise mit der wirtschafltichen Sicherheit verbindet. Den Leuten erscheint es so, als gehöre beides zusammen. Mam meint, sich des nächsten Morgens in jeder Weise sicher sein zu müssen.

Noch vor einigen Jahren, zur Zeit des Sartre-Besuches in Stammheim, zur Zeit der Ausweisung Croissants beneidete man in der Bundesrepublik Frankreich um den einhelligen Protest der Linken.

Seitdem hat sich die öffentliche Meinung in Frankreich stark verändert. Zunächst die Müdigkeit, dann der Eindruck daß die Spannung nicht ewig dauern kann. Schließlich auch die Aktion der Sozialisten, der Sozialdemokraten. Sie haben das Genie, alle Ideen zu entschärfen. Sie sind ganz besonders begabt, den Ideen Kraft zu nehmen. Zum Beispiel die Idee vom „Bruch mit dem Kapitalismus“, darüber haben sie viel geredet, nicht wahr?

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