"Etwas von mir bleibt zurück"

■ Von befruchten bis besamen: Der Krefelder Sportpsychologe Dr. Heinz-Georg Rupp kennt die Bedeutungsbreite der andauernden Spuck- und Rotzleidenschaft unter Fußballern

taz: Im Fußball-Geschäft wird ständig gerotzt und gespuckt. Wahre Fontänen ergießen sich über die Plätze. Warum halten die Spieler nicht an sich?

Heinz-Georg Rupp: Fußball ist ein sehr expressiver Sport, wo es darum geht, sich auszuleben. Wenn ich an mich halte oder es im Wortsinne in mir halte, würde das bedeuten, daß ich eine Chance verpasse, mich zu befreien.

Ist das Ausspucken ein Befreiungsakt?

Durchaus. Wir haben es zu tun mit einer symbolischen Befreiung von Blockaden in einer Situation, in der sich der Spieler als Versager fühlt, etwa nachdem er eine Torchance vergeben hat. Er spuckt, um zu zeigen: Es geht weiter, ich hab' mein Rohr wieder freigelegt, beim nächsten Mal klappt es besser. Und das wird nicht heimlich gemacht, sondern richtig offen ausgelebt, damit die Galerie das auch merkt.

Die Zuschauer sollen das sehen?

Ja. Mit dem Rausrotzen soll eine Botschaft vermittelt werden, eine Selbstermutigung: Ich bin nicht blockiert! Ich mache mir den Weg frei! Mit Freud könnte man die Frustrations- und Aggressionshypothese anführen. Das heißt: Wenn ein Mensch sein Ziel nicht erreicht – hier: Stürmers Grundbedürfnis, ein Tor zu schießen –, dann führt dieses Versagenserlebnis zur Aggression. Ausspucken, dieser kurze Anflug von Deftigkeit und Heftigkeit, ist das Ventil dagegen.

Eine Ersatzbefriedigung, weil man lieber den Pfosten kleintreten würde?

Ich weiß nicht, ob das Spucken Befriedigung gibt. Es ist eine symbolische Handlung. Aber Ersatz durchaus: Manche Spieler würden vielleicht gern gegen den Pfosten treten, wenn der dem Ball im Weg stand. Als eine Art Trotzhandlung wie bei kleinen Kindern. Die treten gegen das Tischbein, wenn sie sich daran gestoßen haben, um das Tischbein als vermeintlich Schuldigen zu bestrafen.

Die Euro in England konnte man auch für eine Eurotz halten. Sind sich die Spieler des Rotzens denn bewußt?

Ich glaube kaum. Das hat ja eine Entwicklungsgeschichte. Beim ersten Mal nimmt man es vielleicht noch wahr. Dann wird es Gewohnheit. Und mit der Zeit hat es sich ritualisiert. Und je häufiger das einer macht, je mehr das machen, desto unbewußter wird es. Heute ist das automatisiert.

Herumspucken gilt sensiblen Gemütern als ekelhaft. Sagt den Kickern denn keiner: Laßt das bleiben?

Sicher ist das wenig imagefördernd für den Spieler. Öffentliches Ausspucken ist ja tabu in unserer Gesellschaft – unsere Körpersäfte haben wir bei uns zu behalten, das ist was Intimes. Und so ein glitschiger, glibberiger Stoff ist erst recht negativ behaftet. Aber wichtiger als Konventionen ist beim Fußballer die Botschaft. Sozialpsychologisch gesagt: Wenn ich dumm gefoult oder danebengeschossen habe, bin ich nicht der passive Vorwurfsempfänger, sondern ich agiere gleich wieder und nehme den Tadeln damit den Wind aus den Segeln. Ich bin aktiv! Wer nichts zeigt, gilt leichter als Lahmarsch, der ist nicht motiviert, strengt sich nicht an. Das wäre fatal, dann lieber spucken.

Wurde denn schon immer so viel gerotzt, oder kriegen wir es durchs Dauerfernsehen nur mehr mit?

Ich glaube schon, daß es immer mehr wird. Das Spiel ist intensiver geworden, härter, aggressiver und schneller. Das schnelle Rotzen, zack, raus, liegt auch im Tempo der Zeit.

Gern wird bei Einwechslungen gespuckt. Ein Initiationsritus?

Das ist durchaus ein Denkansatz. Vielleicht sogar, übertragen gesagt: Jetzt komme ich und besame ersatzweise das Spielfeld. Die Botschaft ist: Ich werde das Spiel befruchten!

Wer vom Platz fliegt, spuckt auch gerne noch mal aus. Was ist dann die Botschaft?

Auch das ist ein Mosaikstein zur Erklärung: Ich gehe nicht ganz, etwas von mir bleibt zurück. Spucken wird ja nicht sanktioniert. Nur eben treffen darf man niemanden: Das ist ja eine der gröbsten Beleidigungen in unserer Gesellschaft. Deshalb gab es um Völler-Rijkaard damals eine solche Aufregung.

Warum spuckt keiner beim Hallenfußball?

Das ist eine gute Frage... Zu Hause spuckt ja auch keiner aufs Parkett oder den Teppich. In der Halle bleiben dann nur andere Kompensationstechniken: Haare raufen, vor den Kopf schlagen... Spucken würde man ja sehen auf dem Boden. Das würde sicher nicht mehr toleriert. Spätestens dann gäbe es die erste gelbe Karte fürs Gelbe. Interview: Bernd Müllender