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"Es gibt keinen Platz mehr für Träume"

■ Die algerische Journalistin Ouassila Sisaber lebt seit drei Jahren in einem von der Regierung geschützten Hotel. Sie beschreibt ihren Alltag, ihre Angst und ihre großen und kleinen Ziele. Aufgezeichn

Ich lebe jetzt schon seit drei Jahren in diesem Hotel. Ich war unter den ersten, die hierher gekommen sind. Am Anfang war es sehr schwer. Ich habe alleine in dem Zimmer gelebt, und ich bin an die Einsamkeit nicht gewöhnt – das war der Bruch mit allem, was mich bis dahin ausgemacht hat.

Mein Zimmer, das sind vier nackte Wände. Ich habe versucht, ihm einen persönlichen Hauch zu geben, denn ich mag diese unpersönlichen Hotelzimmer nicht. Also habe ich eine Art Teppich aus der Kabylei an die Wand gehängt, und ich habe das Plakat von einem Film aufgehängt, der mir wirklich gefallen hat: „Black Rain“. Außerdem habe ich mir einen Fernseher organisieren können. Meine Freunde sagen, daß mein Zimmer eine Wärme habe, aber für mich bleibt es ein Hotelzimmer.

Der Weg vom Pressezentrum ins Hotel ist immer gleich: die selben Straßensperren, die selben Gesichter, die Militärs. Es ist eine entmenschlichte Welt. Ich kehre in mein Zimmer zurück, und dann brate ich Eier, weil ich keine Zeit habe, etwas anderes zu machen. Und wenn keine Eier mehr da sind, schlafe ich, ohne etwas zu essen. Ich trinke vielleicht ein Glas Milch oder einen Kaffee. Ich gucke ein bißchen fern, ohne wirklich etwas zu sehen, und dann schlafe ich.

Es gibt keinen Platz mehr für Träume. Ich träume nicht mehr, und das ist schlimm, denn als Psychologin weiß ich, was das heißt: ein Leben ohne Träume. Das ist ein verstümmeltes Leben, in dem die Vergangenheit nicht mehr existiert. Sie wird von der Gegenwart verdrängt, und die Gegenwart ist zu einem Synonym für den Überlebenskampf geworden.

Wenn ich doch träume, träume ich ohne Farben. Ein Bild kommt oft wieder: Ich sehe, wie Terroristen mit meinem Kopf spielen. Oder ich sehe meinen Vater. Ich habe ihn seit vier Jahren nicht mehr gesehen, er ist im vergangenen Jahr an Krebs gestorben. Ich habe ihn vorher nicht mehr gesehen, weil ich nicht mehr nach Hause gehe. Ich kenne sein Grab nicht. Ich habe manchmal mit ihm telefoniert, und er hat am Telefon geweint. Ich war nicht bei seiner Beerdigung, meine Freunde haben mich zurückgehalten. Das war gut, denn andere sind zu seiner Beerdigung gekommen: fünf Terroristen mit ihren Kalaschnikows. Niemand hat ein Wort gesagt. Sie haben gefragt: „Wo ist sie?“

Mich hat eine Frau verraten. Sie hat meine Freundschaft gesucht, und ich habe sie nicht als Terroristin erkannt: Sie trug einen Minirock, sie hat geraucht – normal. Sie hat ihnen ein Foto von mir gegeben. Die Sicherheitskräfte haben sie schließlich gefaßt und mir eine Liste gezeigt, die sie bei dieser Frau gefunden haben. Ich stand auf dieser Abschußliste, zusammen mit vier befreundeten Kollegen.

Alle Journalisten sind tödlich bedroht, das weiß jeder. Aber wenn man seinen Namen auf einer Liste mit Todesurteilen sieht, dann ist das noch etwas anderes. Das heißt, ich gehöre nicht mehr zu dieser bedrohten Masse, sondern wenn sie deinen Namen ausgesucht haben, werden sie alles tun, um dich zu kriegen. Und wenn sie dich wirklich kriegen wollen, kriegen sie dich. Ich gehe nicht aus – sie sollen sich wenigstens anstrengen müssen, um mich zu kriegen. Wenn ich einen Slip kaufen möchte, schicke ich einen Kollegen, der sich noch raustraut. Selbst für die intimsten Sachen schicke ich jemanden.

Ich weiß nicht mehr, wie das Leben draußen ist. Mein Zuhause? Ich habe vergessen, welche Farbe die Wände zu Hause haben. Ich habe Neffen, die mich nicht wiedererkennen, wenn sie hierherkommen. Sie haben Angst vor mir: Das ist die Fremde. Das schmerzt, das schmerzt wirklich. Das sind Neffen, mit denen ich geschmust habe. Also sage ich meiner Familie: Fotografiert zu Hause jede Ecke, und bringt mir die Bilder mit. Und fotografiert die Neffen, Monat für Monat, wie sie größer werden. Sprechen sie? Sind sie krank? – Das alles erfahre ich nur über das Telefon. Das ist mein Kontakt zur Familie.

Ich schminke mich, denn das Schminken ist ein Akt des Widerstandes: Ich bin da, und ich lache. Für mich ist das ein Zeichen des Lebens, der Gesundheit. Wenn ich mich morgens schminke, lege ich ein bißchen Puder auf, oder ich parfümiere mich am Hals. Und dann rieche ich nicht das Parfüm – ich habe den Geruch von Blut in der Nase. Ich frage mich: Wird man mir heute die Kehle durchschneiden? Und wenn ich mich kämme, frage ich mich: Wann werden sie mir eine Kugel durch den Kopf jagen? Wird es hier sein? An der Schläfe? Oder an der Stirn? Durch den Hinterkopf? Im Spiegel sehe ich nicht mehr mein Bild, sondern ich sehe etwas anderes: Ich sehe den Schrecken. Den Schrecken, den Schrecken, den Schrecken. Manchmal vergesse ich das alles, und ich schminke mich, aber manchmal sind diese Bilder plötzlich da. Ich höre dann sofort auf und gehe zur Arbeit. Das ist ein Traum: mich zu schminken, ohne daß diese Bilder auftauchen.

Es gibt Momente, in denen ich nicht mehr kann und in denen ich sage: Ich verlasse dieses Land. Ich habe nichts mehr zu verlieren, ich gehe. Aber das sagt sich leicht, und dann komme ich wieder zur Vernunft und sage mir: Wenn ich ginge – würde ich schreiben können? Und wenn ja – worüber könnte ich schreiben? Und an wen würde ich mich wenden?

Ich hätte meine Leserschaft verloren, ich wäre nicht mehr als eine Fußnote. Außerdem würde ich mich schuldig fühlen, weil ich gegangen bin. Und ich würde mich selbst hier zurücklassen. Ich bin hier geboren, ich bin hier groß geworden. Ich habe hier geliebt und geweint und gespielt, ich habe hier gefeiert – ich würde einen Teil meiner inneren Welt zurücklassen, wenn ich wegginge.

Für was für ein Leben? Es stimmt, daß ich ruhig schlafen könnte. Und ich könnte wandern – ich träume davon, zu wandern. Aber ich mag es nicht, wenn man mich zu etwas zwingt, und weil ich unter Zwang ginge, bleibe ich hier. Wenn es in Algerien wieder ruhiger ist – kann sein, daß ich mir dann ein anderes Land aussuche. Hier erinnert mich zu vieles an den Schrecken. Aber ich werde erst gehen, wenn ich aus freien Stücken gehe.

Und dann muß man auch sehen, wie wir in der Welt aufgenommen werden. Man muß bedenken, wie viele Länder uns die Tür vor der Nase zuschlagen. Wenn mir jemand die Tür vor der Nase zuschlägt – ich würde niemals an seine Tür klopfen.

Ich würde eines Tages gern über all das schreiben, und vor allem deshalb möchte ich gern leben. Das ist die große Richtung. Und dann die kleinen Ziele. Das Familienleben wieder lernen, denn die Unruhe ist schwer auszuhalten. Keinen festen Punkt zu haben, keinen Halt. Ich würde gern wieder ein normales Leben führen: abends nach Hause kommen, ohne mich nach rechts und links umzudrehen.

Ich würde gern über andere Dinge schreiben. Ich würde gern über Frauen schreiben, denen das Altern schwerfällt. Ich möchte nicht mehr über Mädchen schreiben, die in der Blüte ihres Lebens umgebracht werden. Ich möchte nie wieder über eine Mutter berichten, die weint, weil sie ihre ermordete Tochter beklagt oder ihren Sohn. Ich möchte mich beim Schreiben nicht mehr selbst zensieren, denn im Moment kann man für alles einen Prozeß an den Hals kriegen.

Ich würder gern wieder ruhig schlafen. Ich würde gern wieder die Hochzeiten meiner Freunde feiern; ich möchte nicht mehr an ihren Beerdigungen teilnehmen. Ich würde gern Freundschaften schließen, ohne Angst zu haben. Ich möchte mit der Unruhe Schluß machen und mit dem Warten. Dem Warten auf den Tod. Mit all dem möchte ich gern aufhören. Ich würde gern altern. Ich würde das Alter gern kennenlernen, die Freuden und das Leid des Alters. Ich würde gern leben, im weitesten Sinn dieses Wortes. Leben. Punkt.

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