: "Allein mit der Wirtschaft geht es nicht"
■ Dieter Schulte, Chef des DGB, kritisiert die Regierung: Wenn sie zu sehr mit der Wirtschaft paktiert, entfernt sie sich von ihren Zielen. Sie droht handlungsunfähig zu werden. Ein Bündnis für Arbe
taz: Mit Hilfe der Gewerkschaften wurde Helmut Kohl abgewählt. Nun versuchen Sie gemeinsam mit Kanzler Schröder ein Bündnis für Arbeit zustande zu bringen. Der weist Sie, wie einst Kohl, in die Grenzen. Man könne nicht ohne die Wirtschaft regieren, sagt Schröder. Ärgert Sie soviel Undank?
Dieter Schulte: Das ist nicht frustrierend. Vor zwei Wochen habe ich der SPD-Bundestagsfraktion und dem Kanzler gesagt: Gegen die Wirtschaft kann man keine Politik machen, das ist richtig. Aber allein mit der Wirtschaft geht es auch nicht. Diese absolute Hoffnung der Einseitigkeit ist trügerisch.
Was hat Schröder geantwortet?
Er sagte: „Dieter, du gehst fair mit mir um.“
Ein vergiftetes Kompliment.
Gerhard Schröder weiß, daß die Wahlen mit sozialen Themen wie der Beschäftigungspolitik gewonnen wurden. Wir haben nach dem Abgang von Oskar Lafontaine die Diskussion: Wohin orientiert sich die Bundesregierung in Fragen der Finanz- und Wirtschaftspolitik? Lafontaine stand für eine Politik der sozialen Ausgewogenheit und für mehr Gerechtigkeit. Aber er war doch nicht der einzige, sondern er verkörperte innerhalb der SPD diese Position. Ich habe die Hoffnung, daß dies mit seinem Weggang nicht gegenstandslos wird. Man darf jetzt in der Regierung nicht glauben, daß sich nach Lafontaine alles ändert.
Die Gewerkschaften wissen aber selber nicht, was sie wollen. Die ÖTV sagt, Lohnerhöhungen sollten im Bündnis für Arbeit besprochen werden. Die IG-Metall wettert dagegen. Wo ist Ihre Linie?
Wenn wir über die Rente mit 60 durch einen Tariffonds reden, sprechen wir automatisch die Tarifhohheit an. Also wird niemand sagen: Wir reden grundsätzlich nicht über Tarifpolitik. Aber wir lassen uns nicht darauf ein, über die Höhe der Lohnsteigerungen insgesamt zu reden. Das geht nicht. Dazu haben wir zu starke Unterschiede in den Branchen: etwa bei der Beschäftigungslage oder der der wirtschaftlichen Situation der Unternehmen.
Wieso nicht? Es geht doch nur um Leitlinien. Konkrete Abschlüsse sollen die Tarifparteien aushandeln.
Die Arbeitgeber wissen auch nicht, was sie wollen. Sie werfen uns doch immer vor, wir Gewerkschaften seien unbeweglich, weil man mit einem Tarifvertrag zuwenig auf die Interessen der einzelnen Betriebe eingehen kann. Jetzt wollen sie aber eine Lohnleitlinie im Bündnis für Arbeit festlegen. Da müßte doch jeder Betrieb sagen: Ihr seid nicht mehr ganz gescheit.
Bei allen Sozialpakten spielte Lohnzurückhaltung eine wichtige Rolle. Das vielgepriesene Modell der Niederlande basiert darauf.
Das ist ja auch richtig. Nur hatten wir hier bei uns auch schon seit Jahren eine zurückhaltende Tarifpolitik – aber mit dem großen Unterschied, daß es keine positive Auswirkung auf die Beschäftigung hatte. Wir dürfen nicht vergessen, daß die Niederländer seit 17 Jahren ihr Bündnis für Arbeit haben. Deshalb darf man Deutschland nicht mit anderen Ländern vergleichen?
Der größte Betrieb in Dänemark hat rund 2.000 Beschäftigte. Deshalb ist das dortige Beschäftigungssytem mit dem unsrigen nicht zu vergleichen. Im übrigen sind die Gewerkschaften in Holland auch ganz anders strukturiert. Der dortige Dachverband kann anders handeln als wir. Wenn ich als DGB-Chef sagen würde, ich bin dafür, dann habe ich die Rechnung ohne die autonomen deutschen Gewerkschaften gemacht. Zu Recht. Denn schließlich handeln nicht Gewerkschaftschefs die Tarifverträge aus, sondern die demokratisch gewählten Tarifkommissionen. Lohnrichtlinien lassen sich bei uns nicht durchsetzen.
Also ist die Idee von einem nationalen Konsens in Deutschland passé?
Überhaupt nicht. In den Niederlanden hat dieser Konsensprozeß viele Jahre gedauert. Deshalb sage ich, bei uns in Deutschland kann man nur über einzelne quantifizierbare Projekte reden, die zeitlich begrenzbar sind. Also: Tarifrente mit 60 über fünf Jahre. Wenn wir sehen, daß junge Menschen daraufhin vermehrt eingestellt werden, hat das Projekt funktioniert. Lassen sie uns doch über zeitlich und regional begrenzte Versuche reden. Warum sollen wir nicht einen staatlich subventionierten Niedriglohnsektor schaffen? Zu erst einmal in einzelnen Regionen. Nur anhand einzelner Projekte werden wir neue Lösungen für unsere Gesellschaft finden.
Schröder hat Sie auch beim Thema Höchstarbeitszeit abblitzen lassen. Er sperrt sich gegen eine gesetzliche Absenkung unter 60 Wochenstunden. Wie wollen Sie da noch ernsthaft über neue Arbeitsplätze durch Arbeitszeitumverteilung diskutieren?
Die einzige Frage, die zählt, ist: Wieviel Arbeit gibt es in den nächsten zehn Jahren? Arbeitszeitverkürzungen sind so aktuell wie nie zuvor. Gerhard Schröder meint, Überstunden könnten durch Tarifverträge reduziert werden. Aber ohne gesetzliche Regelung wird es Unternehmen geben, die verkürzte Arbeitszeiten nutzen, um Mehrarbeiten leisten zu lassen. Wenn die Höchstarbeitsgrenze bei 60 Stunden liegt, wird es keinen Kläger dagegen geben. Deswegen meine ich: Wir müssen gesetzlich etwas daran ändern. Aber ich habe Gerhard Schröder noch nicht davon überzeugen können.
Wenn die Gewerkschaften so wenig Einfluß haben, was erwarten Sie dann noch von der rot-grünen Regierung?
Im Gegensatz zur alten Bundesregierung ist sie vertrauenswürdig. Sie agiert mit offenem Visier. Damals konnte die Wirtschaft ihre Interessen doch sehr häufig über die CDU/FDP-Fraktionen steuern.
Das ist nicht mehr nötig. Heute fragt der Wirtschaftsminister die Unternehmen ganz offen: Auf welche Steuervorteile könnt ihr verzichten?
Ich habe der SPD gesagt: Wer zu schnell der Wirtschaft nachgibt, kommt aus dem Nachbessern nicht mehr raus. Aber ich bin durchaus mit der Bilanz der Bundesregierung bis heute einverstanden. Ich habe immer im Hinterkopf: Was wäre gewesen, wäre die alte Bundesregierung geblieben? Da wäre die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall nicht zurückgenommen worden. Allein deswegen sage ich: Heute geht es uns besser.
Bloß der Versuch eines Bündnisses hat bislang wenig gebracht?
Ich will keine Punktsieger zählen. Wenn in der Steuerpolitik nachgebessert werden muß, geht das nur im Konsens mit den Gewerkschaften. Wir brauchen Zeit, auch bei der wichtigen Frage der Ausbildung. Ich will das 100.000-Job-Programm der Regierung nicht abwerten, es aber auch nicht rosarot malen. Es lief einfach, es hat Beschäftigung gebracht, aber relativ wenige Ausbildungsplätze im klassischen Sinne.
Es ist ein einmaliger Kraftakt?
Er ist die Basis dafür, daß wir die Zusage einhalten können, daß jeder Jugendliche einen Ausbildungsplatz erhält. Dafür brauchen wir verbindliche Zusagen der Wirtschaft. Wenn wir es nicht hinbekommen, über Tarifverträge Zusagen für Arbeitsplätze zu bekommen, dann bleibt alles beim Appellcharakter.
Was werden Sie unternehmen, wenn die Arbeitgeber diese Zusage nicht geben?
Wenn dies nicht zustande kommt, wird die Bundesregierung gefordert sein.
Sie fordern eine Ausbildungsplatzabgabe für Firmen, die nicht ausbilden?
Diese Abgabe wäre doch die logische Konsequenz. Es wird der Regierung nichts anderes übrigbleiben. Es geht doch darum, wie glaubwürdig wir bleiben. Wir haben im Dezember versprochen, daß jeder Jugendliche einen Ausbildungsplatz bekommt. Ich bin gespannt, ob die Wirtschaft da freiwillig mitmacht und ob die Regierung konsequent bleibt.
Die neuen Steuergesetze entlasten die vierköpfige Durchschnittsfamilie monatlich um 40 Mark. Ist das die Gerechtigkeit, für die der DGB kämpft?
Im Vergleich zu den vergangenen zehn Jahren ist es eine Trendwende. Wie kontinuierlich dieser Prozeß einsetzt, wird davon abhängen, wie die Regierung mit den Unternehmen umgeht. Wenn fünf Konzerne in Deutschland die Politik bestimmen, ist das eine Schieflage. Die Handwerksunternehmen haben ja gar nicht die Chance, ins Ausland zu gehen. Die Großchemie, die großen Energiekonzerne und die Automobilbranche drohen damit. Sollen die wirklich die Republik beherrschen, obwohl sie nur 20 Prozent der Beschäftigten haben? Das darf doch nicht wahr sein. Wenn die laut schreien, darf man im Kanzleramt nicht gleich nervös werden.
Wie handlungsstark ist die rot- grüne Regierung, wenn sie nichts zu verteilen hat?
Wir reden in Deutschland sehr viel über soziale Gerechtigkeit, ohne nach der Finanzierung zu fragen. Wenn Unternehmen drohen, ihre Produktion ins Ausland zu verlagern, nehmen sie Arbeitsplätze als Faustpfand für eine ihnen genehme Steuerpolitik. Wenn der Staat darauf eingeht und Steuererleichterungen für Unternehmer schafft, reduziert er staatliches Handeln. Das macht er genau an den Stellen, wo ihm der geringste gesellschaftliche Widerstand entgegenschlägt: bei den Randgruppen. Wenn diese Bundesregierung sich von den Unternehmen beeindrucken läßt und ihre Ziele zurücknimmt, wie bei der Ökosteuer, wird sie handlungsunfähig.
Soziale Gerechtigkeit kann ich nur verbindlich diskutieren, wenn ich ein Steueraufkommen dafür schaffe. Insofern ist die derzeitige Diskussion unglaubwürdig.
Herr Schulte, lassen Sie sich eigentlich gerne „Betriebsrat der Nation“ nennen?
Ja, das bin ich gerne. Es ist eine Auszeichnung. Betriebsräte sind heute nötiger denn je.
Interview: Annette Rogalla
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