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pampuchs tagebuchReifeprüfung einer gewachsenen Beziehung

Es gibt mal wieder Grund zum Hadern – mit meinem Lieblingsfeind AOL, der seit zwei Jahren meine Verbindung zur Welt in die Hand genommen hat. Zu den Furcht erregenden Momenten in meinem Leben zählt seither die Verkündigung, dass er eine neue, „upgedatete“ Software auf den Markt gebracht hat. Sie wird mir dann – da kennt AOL keine Gnade – kostenlos zugeschickt, und ich lege die CD zitternd auf meinen Schreibtisch, in dem Wissen, dass ich nicht darum herumkommen werde, sie zu laden.

Die Phase der Zerrissenheit zwischen Modernisierungsdruck und der Sehnsucht, im Bekannten und Vertrauten zu verweilen, dauert in der Regel ein bis zwei schreckliche Wochen. Wie lange kann sich ein Mensch abschotten von den Verheißungen der Zukunft? Wie lange erträgt er es, nicht ganz vorn mit dabei zu sein? „Einzigartig“, so lockt der Prospekt des größten Providers der Welt. „Nie war Internet einfacher“, gurrt es, und „Neues Design. Neue Funktionen. Neue Bereiche“, flötet es. Wenn ich die alte AOL-5.0-Version aufmache, blinken mich die Offerten von 6.0 an, als befände ich mich auf einem Straßenstrich.

Es gibt kein Entrinnen. Ich kann es nicht beweisen, aber ich habe den Eindruck, AOL hilft sogar nach. Just in der Zeit, als die 6.0-CD auf meinem Tisch lag, brach völlig unvermittelt meine 5.0-Version immer wieder zusammen. Ich konnte gar nicht anders, ich musste aufrüsten, musste die „neue Welt von AOL“ betreten. Nicht dass ich nicht wüsste, dass das alles eitel Flunkerei ist. Einige meiner besten www-Berater liegen mir seit Jahr und Tag in den Ohren, den Provider zu wechseln, endlich seriös zu werden, selbstbestimmt und professionell. Dem Schnickschnack zu entsagen, erwachsen zu werden. Doch ich bin treu. Und Treue heißt, mit und in der Beziehung zu wachsen und zu reifen.

Und so reife ich nun mit AOL 6.0. Nichts ist besser geworden. Alles dauert länger. Ich werde noch mehr zugemüllt mit „neuen Funktionen und Möglichkeiten“, die ich nie gebraucht habe und von denen ich meine, dass ich sie nie brauchen werde. Ich verliere Stunden und Tage, um die neuen Features auszuprobieren und mich dann zu fragen, ob das je einer braucht. Zum Beispiel diese Telegramme, direkt auf den Bildschirm von „Buddies“, die online sind: „Hallo, Markus, heute ist Party bei Stefan! Du kommst doch auch, oder?“ Ob sich Markus wirklich freut, weil er nun „den großen Vorteil“ hat, dass er die E-Mail zum Lesen nicht mehr öffnen muss? Was ist so schlimm daran, eine E-Mail zu öffnen? Und was ist gut daran, dass einen jeder jederzeit ohne anzuklopfen auf dem Bildschirm überfallen kann?

Muss das sein? Ja, es muss. Niemand anders als AOL hat mir das beigebracht. Denn AOL updatet nicht nur die Software, sondern auch die Bedürfnisse von uns Usern. Es gibt Dinge, die vertragen keinen Aufschub. So kann man zum Beispiel bei AOL 6.0 Worddokumente nicht mehr einfach in die Mail übertragen. Denn in der neuen Version bleiben die Umlaute und das „ß“ auf der Strecke und erscheinen als Bandwurmformeln der Marke „ü“. Kein schöner Anblick für die Empfänger, meinen Redakteur hat fast der Schlag getroffen. Der Hotlinemensch von AOL hat mir erklärt, dass das etwas mit der neuen HTML-Fähigkeit der Mails zu tun hat. Da sei eigentlich nichts zu machen. Die einzige Möglichkeit bestehe darin, eine Beschwerde an Betreuung@aol.com zu richten. Bei vielen Beschwerden werde AOL dann vielleicht umprogrammieren. Ein klarer Fall für alle Buddies: „Hallo, Markus, heute ist Beschwerdetag bei AOL. Du beschwerst dich doch auch, oder?“ Ich sehne mich schon nach AOL 7.0. THOMAS PAMPUCH

ThoPampuch@aol.com

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