notizbuch:
Adas Lektüre-Kompass
Viele kennen sie noch aus dem Deutschunterricht: Lektüreschlüssel – dünne, meist blaue oder gelbe Hefte, die dabei helfen, endlich zu verstehen, warum Goethes „Iphigenie“ auf Tauris so unglücklich ist. Das Berliner Literaturforum im Brecht-Haus hat nun eine eigene Version der Lektürehilfen gestartet. Drei Ausgaben des Lektürekompasses sind schon erschienen und lassen sich unter lfbrecht.de kostenlos als E-Book herunterladen. Doch hier wird keine Klassik entstaubt: Die drei behandelten Romane sind nämlich alle in diesem Jahr erschienen.
Formal sind sie den klassischen Lektüreschlüsseln ähnlich, erklären nach einer kurzen Zusammenfassung Figuren, Erzählstruktur und unbekannte Begriffe und stellen Interpretationsansätze zur Auswahl. Zwar ist keins der Bücher bislang Schullektüre, doch auch für junge Leser:innen eignen sich die Publikationen. So wird extra erklärt, dass die Figuren in Esther Beckers „Wie die Gorillas“ keine Pille danach kaufen können, weil diese erst seit 2015 ohne Rezept erhältlich ist. Auch auf die Konjunktur von Nacktheit im Gegenwartstheater wird kritisch eingegangen.
Mit der Reihe wolle man die Zugänglichkeit von druckfrischer Gegenwartslektüre verstärken, sagt Lutz Klüppel vom Literaturforum. „So lässt sich die eigene Interpretation der Werke noch mal befragen.“ Intertextuelle Bezüge lassen sich genauso wie in klassischen Dramen natürlich auch in den Romanneuerscheinungen feststellen. Viel interessanter ist jedoch der literaturwissenschaftliche Blick auf neue Erzählformen. So wird in Beckers Roman das filmische Erzählen thematisiert, Eingangssätze werden mit „Establishing Shots“ verglichen. Auch die Erklärungen zu afrikanischen Begriffen in Sharon Dodua Otoos „Adas Raum“ sind hilfreich. So lernt der:die Leser:in, dass „Asamando“ in der Akanreligion das Land der Geister und Vorfahren bezeichnet.
Das freie Format der Reihe ermöglicht zudem ungezwungenere Überlegungen der Autor:innen der Lektürehilfe; allesamt Germanist:innen. „Das mag nicht vielen bewusst sein, aber eigentlich ist jeder Besuch einer öffentlichen Badeanstalt eine Demütigung für Frauen“, heißt es so etwa in einer Abhandlung über den männlichen Blick – unwahrscheinlich, dass ein solcher Satz das Lektorat für einen Reclam-Lektüreschlüssel passiert hätte.
Neben Becker und Otoo ist auch Axel Ruoffs „Irrblock“ bereits in einem Lektürekompass behandelt worden. „Wenn die Leser:innen das Angebot annehmen, werden wir die Reihe mit einer Neuerscheinung pro Monat fortführen“, sagt Lutz Klüppel. Momentan sieht es danach aus. Die Erklärungen zu „Adas Raum“ sind seit Erscheinen in der letzten Woche fast 200 Mal heruntergeladen worden. Julia Hubernagel
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