kühn kuckt: Die Alpenglüher
Unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit sendet 3Sat seit geraumer Zeit schon Reality-TV. 117 Kameras hat der Erlebnis-Sender in ausgewählten Urlaubsgebieten postiert, um werktäglich von sieben bis neun Uhr das Alpenpanorama zu zeigen. Live und in Farbe sieht der abenteuerhungrige Zuschauer hier Aufnahmen aus der europäischen Bergwelt. Best of Deutschland, Österreich, Schweiz und Italien: schneebedeckte Gipfel, die majestätisch in unglaubliche Höhen emporragen; saftig grünes Tal, nur bedeckt vom Morgentau, so frisch wie der junge Tag; und gerade noch erahnbare, blaugrün gefärbte Seen, überzogen mit undurchdringlich dicken Nebelschwaden, die keinen Blick zu-, dafür aber der Fantasie der Zuschauer freien Lauf lassen.
Angereichert wird das Bild durch eine Fülle von eingeblendeten Informationen: wie hoch der Berg, wie viel Meter über dem Meeresspiegel, aktuelle Temperatur, Luftfeuchtigkeit – und jede Menge Kulturtipps. Brauchtumsabend in Bad Gastein. Almabtrieb im Zillertal. Oktoberfest in Hintertux. Knödelfest in – ach, es ist aber auch schwierig. Eine Info jagt die andere in einer Geschwindigkeit, in der man gar nicht alles mitschreiben kann. Besonders ärgerlich ist das bei den Internet-Domains. Gut, manche sind noch recht einprägsam, so wie die Adresse der schönen Ferienregion Villach-Warmbad im schönen Kärnten im schönen Österreich: www.dalachtdasherz.at. Wo aber gibt es noch einmal die Informationen zum Sonnenuntergang, der jeden ersten und dritten Freitag angewandert wird? Wo sind die Schutzhütten? Und muss man sich für die Expo-Gondeln anmelden, die demnächst am Tegernsee schweben? Für die Panorama-Bilder hat man kein Auge mehr frei. Was im Moment nichts macht, denn auf die Kamera am Tegernsee hat’s voll draufgeregnet, und wir sehen nichts als Wasser.
Lebewesen scheint es keine zu geben in den gezeigten Regionen. Nicht mal einen Moderator, der einen an die Hand nimmt und durch die wilde Flora führt. Nein. Nur manchmal glaubt man ihn rufen zu hören, den Berg. Ganz entfernt. Doch der Berg hat keine Chance. Er wird übertönt durch Quetschkommode und Zither, die sich einen unerbittlichen Kampf liefern. ALEXANDER KÜHN
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen