kritisch gesehen: Gesprengte Gegenwart
Ein Zufluchtsort für vormals Versklavte, beschützt auch durch Magie: Der Dichter Phillip B. Williams liest aus seinem Romandebüt „Ours“

Es beginnt mit einem Wunder: Gleich im ersten Satz stellt Phillip B. Williams klar, was zu erwarten ist auf den folgenden knapp 700 Seiten, und was nicht. Da erhebt sich ein erschossener 17-Jähriger aus der Lache seines eigenen Blutes, schlägt die fest verschlossenen Augen auf, „von neuem Geist und Atem beseelt“, spricht seinen Namen, „als wäre er ihm soeben gegeben worden“.
In Williams’Roman werden also Dinge passieren, die das sprengen, was gemeinhin als „realistisch“ gilt. Auch deutet sich an, wie sehr der preisgekrönte Dichter, Lehrer für kreatives Schreiben und (seit 1. April) Picador-Gastprofessor in Leipzig aufs Spiel auch mit den Zeitebenen setzt. Denn wo sich die entfernt österliche Szene zuträgt, befand sich nicht ganz 200 Jahre zuvor „eine Stadt namens Ours, gegründet von einer rätselhaften und furchteinflößenden Frau“, und das im Jahr 1834. Aber vielleicht sei die zu erzählende Geschichte auch noch mal 100 Jahre älter, nehme ihren Ausgang an Bord der „Divider“ – einem Sklavenschiff Kurs Nordamerika.
Die Stadt, die irgendwann die ehemals Versklavten als die ihre zu begreifen sich trauen, keimt mit dem Verkauf eines Grundstücks an ein Schwarzes Paar, was eigentlich illegal ist, hier, nördlich von St. Louis. Bankmanager Mr. Flint macht es trotzdem, nicht ohne einen überhöhten Preis zu verlangen, versteht sich. Als bald sämtliche weißen Nachbarn die Flucht ergreifen, verkaufen sie ihren Grund, ihre Häuser und alles darin ebenfalls an Schwarze – zum Dreifachen dessen, was sie selbst gezahlt hatten. Die Ortsmarke mag fiktiv sein, derartige rassistisch grundierte Übervorteilung war es nicht in den Vereinigten Staaten ante bellum. Unter den ehemaligen Sklav:innen heißt die einstige Grundstückskäuferin „Saint“, und diese Heilige wird tatsächlich eine Art Schutzpatronin Ours’werden, diese ihre Stadt zu beschützen suchen – auch mit Magie.
Erschienen ist Williams’Debüt-Roman ziemlich termingerecht zur Wiederwahl von US-Präsident Donald Trump. Wie schnell die neue alte Administration sich ans Zurückdrehen und Zerstören machen würde, ans Schleifen eben noch für selbstverständlich erachteter Errungenschaften gerade auch für (und durch) Schwarze Menschen, das war da wohl noch gar nicht allen klar.
Zumal deutsche Kulturkritiker:innen bösen Eskapismus wittern mögen, er hat ja auch nicht nur Gutes gebracht, der romantische Weltflucht-Fimmel. Die Rolle des Magischen Realismus in der Schwarzen Literatur ist eine andere, da geht es ums Eröffnen von Möglichkeiten, ums Durchspielen von da draußen gerade noch nicht Vorstellbarem, um Utopie.
Phillip B. Williams, „Ours. Die Stadt“. Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Milena Adams. Verlag S. Fischer, Frankfurt 2024, 704 S., 28 Euro; E-Book 24,99 Euro
Lesungen: Mi, 23. 4., 19.30 Uhr, Lüneburg, Heinrich-Heine-Haus
Di, 22. 5., 20 Uhr, Hannover, Literarischer Salon der Leibniz-Universität, Königsworther Platz 1
„Ours“ lässt sich als labendes Comeback der Fantasie lesen (nach viel autofiktionaler Ödnis), so tat’s der Zeit-Rezensent; als zwingende Reaktion auf unsere Gegenwart – oder einfach als einen gelungenen Roman, der sein Publikum gerade nicht in eine fern-trügerische Idylle entführt. Nach Donald Trump wird man Williams bei seinen Lesungen sicher auch fragen dürfen – und welcher Zauber da vielleicht geholfen hätte. Alexander Diehl
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