irak: chirac dämpft bush: Die Erosion der Hegemonie
Hegemonie, so einst der bedeutende wilhelminische Staats- und Völkerrechtler Heinrich Triepel, setzt zwar überlegene militärische und ökonomische Machtmittel voraus, funktioniert aber dennoch nur mit Zustimmung derer, über die die Vorherrschaft ausgeübt wird. Das unterscheidet Hegemonie von imperialer Herrschaft. Wenn aber der Hegemon, sprich: heute die allein übrig gebliebene Supermacht USA, es an jeder Konsultation, an jeder „Selbstbeschränkung der Macht“ (Triepel) in dem von ihm dominierten Hegemonialsystem fehlen lässt, beginnt dessen Erosion.
Kommentarvon CHRISTIAN SEMLER
Die Aktionen Frankreichs und seines Präsidenten im Irakkonflikt sind Ausdruck dieses Auseinanderfallens. Schon Jacques Chiracs Ziehvater de Gaulle strebte nach einer selbstständigen Rolle Frankreichs; jetzt fährt sein Zögling die Ernte ein.
Chirac warb für die Grundlinien seiner von der Bush-Adminisration abweichenden, nicht unausweichlich auf den Krieg hinsteuernden Irakpolitik an einem gänzlich unerwarteten Ort – auf dem Gipfel der Internationalen Konferenz der Frankophonie (OIF) in Beirut. Der Ort ist ebenso signifikant wie die gewählte Organisation. Denn der Libanon ist ein arabisches Land, zählt aber gleichzeitig die Frankophonie zu den Eckpfeilern seiner brüchigen nationalen Identität. Und die OIF gehört neuerdings auch Algerien an, dessen Wort in der arabischen Welt Gewicht hat.
Gerade weil die EU gegenwärtig nicht in der Lage ist, eine konsistente alternative Irakpolitik zu entwickeln, operiert Chirac im Rahmen eines überwunden geglaubten politischen Bezugssystems. Der Präsident nimmt die den Großmächten von der UNO-Satzung eingeräumte Sonderrolle im Sicherheitsrat wahr – er verhandelt. Und er sorgt dafür, dass erstmals in der Geschichte der OIF eine durch und durch politische Resolution verabschiedet wurde. Deren Kernsatz: Es darf keine „fatalité“, keinen Automatismus der Gewalt gegen Saddam Hussein geben. Der UNO-Sicherheitsrat soll das letzte Wort behalten.
Aus Beirut heimgekehrt, sprach Chirac von seiner politischen „Vision“, nach der das Verhältnis zu den USA gut sein sollte, aber nicht auf der Idee gründet, dass die Vereinigten Staaten immer Recht haben. Ob nun Vision oder nur Gemeinplatz: Fest steht, dass jenseits der Hegemonialpolitik der USA nicht das Chaos droht, nicht der Rückfall in den internationalen Naturzustand „jeder gegen jeden“. Politik ist machbar, großer Nachbar!
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