piwik no script img

in fußballlandCHRISTOPH BIERMANN über Tabellen von Welt

Wo liegt Valkeakoski?

Wenn mein Freund Günther seine Mutter daheim in Sulingen besucht, einem Örtchen im Niemandsland zwischen Bremen und Hannover, das er vor mehr als zwei Jahrzehnten verlassen hat, nimmt er zumeist ein Päckchen in Empfang, das Ergebnis der Sammelarbeit seiner Mutter in den Wochen zuvor ist. Aus dem Lokalblättchen hat sie in dieser Zeit sorgfältig die Sportseiten zur Seite gelegt, und ist Günther wieder zu Hause, nimmt er die zur Hand, um damit, wie er neulich erzählt hat, selbstvergessen eine Stunde oder mehr zu verbringen.

Sein besonderes Interesse gilt vor allem den Tabellen, mit Hilfe derer er die Aufs oder Abs jener Fußballvereine dokumentiert findet, die Günther noch aus seiner Jugendzeit kennt und deren Entwicklungen er über die Zeitung in all den Jahren verfolgt hat. Dabei interessiert ihn beileibe nicht nur jener Klub, in dem er einst selbst gespielt hat, sondern auch alle Gegner von einst, die Tabellenstände in anderen Bezirksklassen, Kreisligen oder gar im Jugendfußball der unterschiedlichen Altersgruppen.

Man könnte dieses Versinken in Ergebnislisten, Punkteständen und Platzierungen für einen Ausdruck von Heimatverbundenheit halten, von Heimweh und vielleicht sogar seiner stillen Sehnsucht nach der Kindheit in der Provinz. Aber wie immer das in Günthers Fall sein mag, ist da noch etwas anderes, das er mit allen Tabellenguckern gemeinsam hat. Es ist der Trost, den diese Zahlenwerke jenen zu spenden wissen, die dem Fußball nachhängen. So aufregend, erschütternd oder glücksbringend ein Spiel auch gewesen sein mag, am Ende steht ein schlichtes Ergebnis und wird in die Tabelle eingerechnet. Weil sich also am Ende alles in der Tabelle niederschlägt, wissen wir, dass aus ihr auch wieder alles herausgelesen werden kann. Längst herrscht zudem Konsens darüber, dass sie nicht lügt, weil sich doch angeblich Glück und Pech, Schicksalsschläge und unverhoffte Begünstigungen im Laufe einer Saison ausgleichen und man am Ende also ablesen kann, wie die Welt der betreffenden Liga wirklich ist.

Mein Freund Andy hat einmal, nachdem er auf dem Bahnsteig einer Londoner U-Bahn-Station darüber nachgesonnen hatte, ob Goldfische das Glück haben zu vergessen, dass sie den Weg, den sie in ihrem Glas gerade zurückschwimmen, wenige Momente zuvor hergeschwommen sind, gesagt, dass er die meisten seiner geographischen Kenntnisse den Tabellen internationaler Ligen verdankt. Wie weit mussten wohl die Fans von Bologna nach Mailand reisen? Wo ist eigentlich Alavés in Spanien? Wo mag Valkeakoski sein, die Heimat der finnischen Mannschaft vom FC Haka Valkeakoski? Oder heißt der Ort Haka? Viele Kinder in England dürften auf ihrem Atlas so verzweifelt den Ort Schalke in Deutschland gesucht haben wie deutsche Kinder die Stadt Everton, bevor ihnen jemand sagte, dass es sich um einen Ortsteil von Liverpool handelt.

Günther hat gesagt, dass er bei einem Blick auf die argentinische Tabelle häufig geglaubt hat, sein Klub Werder Bremen hätte gegen die Boca Juniors aus Buenos Aires nie eine Chance. Weil Argentinien weit ist und der Name Boca Juniors einen geheimnisvollen Klang hat – wie schlecht sie in Wirklichkeit auch immer spielen mögen.

Auch ich sitze am Sonntagabend oft vor dem Fernseher, um per Videotext eine Fülle von aktuellen Ergebnissen und Tabellen abzurufen. Man bewegt sich dabei auf vertrautem Terrain, denn all die Namen zwischen Trabzonspor und Willem II Tilburg sind einem seit Jahrzehnten treue Begleiter. Aber das ist nicht nur wie ein gemütliches Bad im Bekannten, ich möchte wissen, wie Eintracht Braunschweig, Celtic Glasgow, Bayern Hof, der FC Antwerpen und eine Reihe anderer Klubs gespielt haben, für die ich eine so leichte wie unerklärliche Sympathie hege. Der blanke Positivismus der Zahlenreihen schafft einen Raum für Phantasien, wie sie wohl zustande gekommen sein mögen. Und das ist mitunter viel schöner, als zu wissen, wie es wirklich war.

Fotohinweis:Christoph Biermann, 39, liebt Fußball und schreibt darüber

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen