großraumdisco: Laut singen ist krass: Wieder lernen, was sonst nur Kinder und Profis können
Zum One-Day-Chor in Bremen treffen sich fremde Menschen, um miteinander zu singen: genau ein Mal und ohne Publikum. Ein Selbstversuch
Wie war das nochmal mit Sopran, Alt und Tenor? In der Mail, die wir bekommen haben, sollten wir uns einer von sechs Stimmen zuordnen. Ich entscheide mich für den zweiten Sopran und hoffe, dass ich damit halbwegs richtig liege.
Ich bin auf dem Weg zu einem One-Day-Chor, der von brynja, dem „Fitnessstudio für die Psyche“ organisiert wird. Das letzte Mal vor Menschen gesungen habe ich in der 7. Klasse bei einer Schulaufführung von „Cats“. Jetzt singe ich nur noch vor meinem Kind und selbst das schlägt mir regelmäßig vor, lieber damit aufzuhören. Laut singen finde ich krass.
Das Gute am Chor ist ja eigentlich, dass man sich an anderen orientieren kann. Man kann perfekt heimlich in der Masse untergehen. Und das ist auch mein Plan für heute.
Das Prinzip des One-Day-Chors kommt aus New York. Die Idee dahinter: Menschen, die einander nicht kennen, kommen für wenige Stunden zusammen und singen einen Song, den sie vorher nicht geübt haben. Einige Videos von diesen Chören gingen viral: Sehr unterschiedliche Menschen laufen durch einen Keller und singen dabei „Creep“ in perfekter Harmonie.
Wir treffen uns nicht in einem Keller, sondern weit im Bremer Osten: im Veranstaltungsraum des Bremer Krankenhausmuseums Kulturambulanz. Ich kenne tatsächlich keine der 50 Personen, was in einem Dorf wie Bremen schon ungewöhnlich ist. Wir singen „Take me to church“ von dem irischen Songwriter Hozier. Lene, die Chorleiterin, betont immer wieder, dass es nicht darauf ankomme, perfekt zu klingen. Wichtig sei nur, dass wir es fühlen – und ich fühle: Stress. Ich weiß, dass ich nicht gut singe. Außerdem bemerke ich gerade, dass ich wohl vergessen habe, wie man Noten liest.
Mir fällt ein, dass ich selbst meine engsten Freund*innen noch nie singen gehört habe. Wann haben wir eigentlich damit aufgehört? Ich denke an mein Kind, das in einem vollen Supermarkt ein ungefragtes Konzert von der „Eule mit der Beule“ gibt, inklusive Choreo. Meinem Kind ist egal, ob es schief oder den falschen Text singt. Es denkt gar nicht darüber nach. Es singt, weil es eben Spaß macht. Weil es sich gerade danach fühlt. Wann ist Singen zu etwas geworden, wofür man sich schämt?
Ich starre auf die Noten und hege den Verdacht, dass es was mit unserer Leistungsgesellschaft und der Angst vorm Unperfekten – Singen ist nur erlaubt, wenn man es perfekt beherrscht und damit auch Geld verdient –, zu tun hat, aber ich habe keine Zeit, diese These auszuformulieren. Es geht nämlich direkt los: „Wir starten im 16. Takt“, sagt Lene. Ich fühle schon wieder: Stress. Wie finde ich den 16. Takt?
Die Kulturambulanz ist ein Museum und Veranstaltungsort auf dem Gelände des Klinikums Bremen-Ost. Das 1987 ins Leben gerufene Projekt versteht sich als Wegbegleiter der Psychiatriereform und hat sich in zahlreichen Ausstellungen mit der Tötung von Kranken im Nationalsozialismus und den dunklen Seiten der Verwahrpsychiatrie der Nachkriegszeit befasst.
Wir sollen jetzt wirklich singen. Jan begleitet uns auf einem Klavier. Wir wiederholen immer wieder einzelne Stellen. Nach zwei Stunden kommt ein Schlagzeug dazu. Ich merke, dass ich immer lauter werde und aus Versehen mit den Menschen um mich herum im Takt hin und her wippe. Mir ist noch nie aufgefallen, wie schön „Take me to church“ ist. Und dann nach fast drei Stunden die Belohnung: Wir singen den ganzen Song mehrmals hintereinander am Stück, mit Klavier und Schlagzeug. Ich denke schon lange nicht mehr darüber nach, dass ich ja eigentlich gar nicht singen kann. Ist ja auch egal, zusammen klingen wir nämlich fantastisch.
„Es war richtig schön, neben dir zu singen“, sagt eine Person, deren Name ich nicht kenne. Dafür kenne ich etwas viel Intimeres von ihr: Ich weiß, wie sie singt. „Braucht ihr eine Mitfahrgelegenheit?“ Ich nicht, ich bin mit dem Fahrrad gekommen. Auf dem Weg höre ich mir die Aufnahme von eben an und danach noch mal das Original. Wir klingen viel geiler, finde ich.
Es ist spät und ich fahre durch ein verlassenes Industriegebiet. Seit Langem hatte ich auf dem Heimweg keine Angst mehr, doch jetzt merke ich, dass ich mich nicht sicher fühle. Ich fahre schneller. Was macht mein Kind noch mal, wenn wir durch den dunklen Keller müssen? Ich wage das Verbotene: Ich singe laut und schief. „I’ll tell you my sins and you can sharpen your knife!“ Und ich fühle: mich frei.
Amanda Böhm
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