Leerstelle im Wahlkampf: Obdachlosigkeit bekommt keine Aufmerksamkeit
Während im Winterwahlkampf hitzig debattiert wird, bekommen Obdachlose nicht nur die Kälte auf den Straßen zu spüren.

Ein kahler Raum mit sechs Betten. Wegen des Kälteeinbruchs wurden zwei zusätzliche Liegen aufgestellt. Ich stehe in einem Klassenzimmer der ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin-Kreuzberg, die wir im Rahmen des taz-Panterworkshops für Nachwuchsjournalist*innen besichtigen.
Heute beherbergt das Gebäude eine Notunterkunft für obdachlose Menschen. Während des Besuchs wird mir bewusst: Ich nehme die Menschen, die auf der Straße leben oder dort ihr Auskommen verdienen müssen, kaum wahr.
Tagtäglich haste ich an ihnen vorbei, in Gedanken bei meinen eigenen Sorgen. Wie sich der Obdachlose, an dem wir unterwegs vorbeikamen, vor der Kälte schützt? Welche Farbe die Mütze des Flaschensammlers hatte? Was der Mann vor dem Supermarkt, der uns nach Geld fragte, in seiner Tasche hatte? Auf keine dieser Fragen habe ich eine Antwort.
Dabei ist Obdachlosigkeit das sichtbarste Symptom der aktuellen Wohnungsnot in Deutschland. Dem aktuellen Wohnungslosenbericht der Bundesregierung zufolge sind in Deutschland rund 531.600 Menschen wohnungslos, fast 50.000 von ihnen leben auf der Straße. Tendenz seit Beginn des Krieges in der Ukraine steigend.
Doch im Wahlkampf findet das Thema keine Aufmerksamkeit. Nur Grüne und Linke wollen Obdachlosigkeit beenden und setzen dabei auf den Ansatz „Housing First“, bei dem den Menschen eine Wohnung vermittelt wird, ohne dass diese an weitere Bedingungen geknüpft ist.
Empfohlener externer Inhalt
Außerdem wollen beide Parteien Zwangsräumungen verhindern, die in die Obdachlosigkeit führen. Bei allen anderen Parteien wird Obdachlosigkeit in den Wahlprogrammen nicht einmal erwähnt.
Doch wie alle Probleme verschwindet auch Obdachlosigkeit nicht, wenn man die Augen davor verschließt oder den Blick abwendet. Auf dem Nachhauseweg schaue ich mir die Menschen zum ersten Mal genauer an.
Der Obdachlose am U-Bahnhof hat Zeitung unter seine Isomatte gelegt, um sich vor der Kälte zu schützen. Der Flaschensammler trägt eine blaue Mütze. Und der Mann vor dem Supermarkt hat ein Xylofon in seiner Tasche.
Lenja Vogt ist eine von 23 Nachwuchsjournalist*innen, die in der taz derzeit eine Sonderbeilage zur Bundestagswahl gestalten. Sie erscheint am 21. Februar.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach Taten in München und Aschaffenburg
Sicherheit, aber menschlich
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt
Soziologische Wahlforschung
Wie schwarz werden die grünen Milieus?
Comeback der Linkspartei
„Bist du Jan van Aken?“
Krieg in der Ukraine
Keine Angst vor Trump und Putin
Polarisierung im Wahlkampf
„Gut“ und „böse“ sind frei erfunden