fatima morgana: Ein Wort ohne Geschlecht
Heidegger im Ramadan, den Koran zu Weihnachten
Die Leute von der taz haben angerufen: „Schreiben Sie über sich als muslimische ägyptische Akademikerin: wie Sie die Frauen in Deutschland wahrnehmen: Die Verschiedenheiten, die Gemeinsamkeiten …
Gemeinsamkeiten? Hmmm …
Okay. Vor 14 Jahren, als ich meine Examensarbeit über Frauen und Politik im Islam schrieb, wurde mir klar, dass das Arabische und das Deutsche eine Idee teilen: Beide Sprachen haben, im Gegensatz zum Englischen etwa, dieses wunderbare Wort: Mensch, Insan.
Ein Wort ohne Geschlecht. Das einfach auf die Kreation Allahs verweist: die menschliche Spezies. Ich bin ein Mensch … Insan … Ein abstraktes Wort, das Ausdruck einer transzendenten Weltanschauung ist, in der deutschen Philosophie und in der islamischen Theologie.
Im letzten Ramadan las ich den Koran und – genauso gern – Heideggers „Sein und Zeit“. Obwohl Heidegger Existenzialist sein soll, beschäftigt mit dem Hier und Jetzt des menschlichen Daseins, beeindruckte mich vor allem die Poesie des Buches und seine genaue Sprache. Ein wunderschöner Stil, der mir an der deutschen Schule in Kairo nie begegnet war. Wir lasen Brecht und Grass, ich schrieb im Literaturkurs über Friedrich Dürrenmatt …
Mein Herz sagte mir, das Heidegger ein tranzendentaler Mensch ist, der an Gott glaubt und daran, dass „Menschen“ die Natur eben transzendieren. Dass Menschen einer höheren Qualität angehören als die materielle Welt. Das aber ist auch die Basisannahme des Islam. Er geht sogar weiter, indem er die Inkarnation Allahs in jeder Form verneint.
Über Heidegger zu lesen, verwirrt nur, man muss ihn selbst lesen. Erstaunlicherweise fand ich in Gadamers Gesammelten Werken einen Hinweis auf einen Brief, den ihm Heidegger schrieb. Ihn verwundere, dass die Leute ihn für einen Philosophen hielten. Er sehe sich selbst als einen „christlichen Theologen“.
Das könnte die Aufgabe meiner Generation sein: Die vorgegebenen Kategorien befragen, die Barrieren der Mythen über sich und andere überbrücken. Das geht nur, wenn die Leute vom anderen Ufer des Flusses sich entschließen, das Wasser der Zweifel und Missverständnisse zu überqueren, um die andere Seite selbst anzusehen.
Ich will nicht darüber schreiben, was Frauen gemeinsam haben und wie ich die Unterschiede zwischen Osten und Westen sehe. Ich will schreiben, wie Individuen verschiedener Kulturen den Reichtum an Visionen und deren Ähnlichkeiten entdecken sollen. Inwiefern der Islam für Europa relevant ist und die islamische Philosophie für eine Person in Hagen oder Hannover oder Berlin.
In der Ära der Globalisierung, während vom Kampf der Kulturen die Rede ist, las ich also mit Vergnügen Heidegger im Ramadan und fand ihn islamischer als so manchen modernen muslimischen Denker. Während aus Vieldeutigkeiten immer stärker die Stimmen der Polarisierer emporsteigen, sehe ich auch, dass die Frauen überall auf der Welt weniger durch religiöse Werte bedroht sind als durch die kapitalistische Herrschaft des Konsums und die „Verkörperung“ der Sache der Frauen und ihrer Würde. Und ich wiederhole: Würde.
Wenn ich über meine Ansichten als muslimische Frau für taz-Leserinnen und Leser schreiben sollte, würde ich darüber schreiben, was das Islamische Rechtssystem und die deutsche Philosophie gemeinsam haben. Die ägyptische arbeitende Mittelschichtsfrau und die deutsche müssen beide mit der globalisierten Arbeitswelt umgehen, mit den Herausforderungen, die Müttern in den pornografisierten Medien begegnen, und den Pflichten, die sie gegenüber den Machtlosen, den Opfern aller Arten von Diskriminierung, Rassismus und Gewalt haben.
Ich bin nicht nur eine Muslimin, ich bin eine Sozialdemokratin, eine sehr strenge Mutter dreier Kinder, die ihre Freizeit im Moment damit verbringt, Kants Ideen von der Vernunft zu lesen. Die es schätzt, dass Marx’ Ideen durch die Frankfurter Schule humaner gemacht wurden – wie das Christentum durch die Reformation.
„Mensch“. Möchte in den nächsten Weihnachtsferien vielleicht mal jemand den Koran lesen? HEBA RAOUF EZZAT
Die Autorin lehrt Politologie an der Universität Kairo.
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