einsatz in manhattan: Bilderbücher für Bildungsbürger
Maurizio Cattelans „Charley“
Noch bevor das zweite Jahrtausend dem dritten wich, erlagen auch hierzulande die klugen Köpfe des Kulturbetriebs der Versuchung, das Phänomen der Top 100 endgültig ihrem natürlichen Umfeld von Popmusik-Charts und Bestverdiener-Ranglisten zu entreißen. Die Redaktion der Modern Library erklärte Henry Adams „The Education of Henry Adams“ zum wichtigsten englischsprachigen Sachbuch des 20. Jahrhunderts und Joyces „Ulysses“ zum besten Roman. Das American Film Institute katapultierte Orson Welles’ Meisterwerk „Citizen Kane“ auf Platz eins der bedeutendsten Filme aller Zeiten, und auf der Suche nach dem gelungensten Gedicht der letzten 100 Jahre entschied sich ein weiteres Komitee schließlich für W. H. Audens „In Praise of Limestone“. Auf den obersten Plätzen waren also die dead white males mal wieder ganz unter sich.
Auch der Kunst blieb Ähnliches nicht erspart. Richtig, hier gab man sich zur Bestimmung der besten Künstler zwar internationaler, berücksichtigte Geschlecht wie Ethnie und führte die ausschließlich quicklebendigen Auserkorenen in alphabetischer Reihenfolge auf. Aber als Phaidon Press zur Jahrtausendwende nach ebendiesen Kriterien „Cream“ publizierte, umgab das teure Buch trotzdem der Hauch des Elitären. Eingeschweißt in ein dickes, durchsichtiges Luftkissen kam der Prachtband allzu gewichtig daher. Zehn handverlesene Kuratoren stellten inmitten kluger Texte von Gilles Deleuze, Julia Kristeva oder Toni Morrison die Werke von 100 Künstlern vor. Einer von ihnen ist der in New York wie in Madrid lebende Italiener Maurizio Cattelan, 41, dem ein Kurator auf den Seiten von „Cream“ bescheinigt, er sei das „tödliche Virus“ im Kunstbetrieb, dessen neokonzeptuelle Arbeiten die Grenzen von dem, was noch als Kunst durchgehen könne, stets neu definierten.
Ausgerechnet dieser Maurizio Cattelan tritt jetzt als Chefredakteur mit dem viel erschwinglicheren Bildband „Charley“ gegen die oft selbstverliebten Lobhudeleien der als inzestuös empfundenen Kunstwelt an, wobei es nicht wundern muss, dass die Publikation in ablehnender Anspielung auf das Original erst „Sour Cream“ heißen sollte. Denn „Charley“ präsentiert auf 400 Seiten ebenso viele junge Künstler, ohne nur ein einziges erklärendes Wort über sie zu verlieren. Seitenzahlen sucht man meist vergeblich, und die Namen der Beteiligten drängeln sich auf kleinstem Raum ganz vorne im Buch. Mehr als siebzig Kuratoren, Kritiker und Künstler wurden gebeten, maximal zehn Newcomer zu benennen, deren Karriere es sich ab sofort zu verfolgen lohnt. Aus dem zugesandten Bildmaterial, das nur aus bereits publizierten Fotos, Presseberichten, Einladungskarten etc. bestehen durfte, wählte das Redaktionsteam jeweils ein Werk pro Künstler, das dann für „Charley“ auf dem Hintergrund eines grauen Betonbodens erneut abgelichtet wurde.
Das Resultat wirkt wie ein kunterbuntes Daumenkino, ein Warburg’scher Bilderatlas fürs vergängliche Hier und Jetzt, dem der rote Faden längst verloren ging. Das Spiel ist klar: Allein die Fülle an Künstlern führt die Möglichkeit eines Rankings ad absurdum, und die Kunst, die sich dem Betrachter so unmittelbar zeigt, dokumentiert immer schon ihre eigene Verwertung in der Kunstwelt. Die Reihenfolge der Abbildungen erschließt sich einzig durch die zufällig von den Redakteuren entdeckten Korrelationen. Komplizierte Schaubilder erklären Angstzustände, die Nebenwirkung von Drogen oder die Wirkungsgeschichte amerikanischer Kleinstbetriebe. Keine Landschaft, die nicht entfremdet, kein noch so banaler Schnappschuss, dem mit Unschuld zu begegnen wäre. Masken, Verkleidungen, Entstellungen zuhauf. Das skurril Erotische überwiegt, ganz gleich ob junge Japanerinnen einer auf dem Boden befindlichen Kamera ihre nackten Fußsohlen entgegenrecken oder die Hoden eines bei Sonnenuntergang auf einer Mauer balancierenden Mannes aus einem Loch in dessen Jeans baumeln. Peinlich, genial, egal – auf urdemokratische Weise sind hier die unterschiedlichsten Künstler zusammengewürfelt. Manche von ihnen bespielen die nächste documenta, den Namen anderer kann selbst Google kaum mehr als ein Dutzend Mal im Netz ausmachen.
„Charleys“ Charme ist sein Dilletantismus, der Versuch, einer individualistischen Kunstwelt Gemeinsamkeiten zu entlocken. Nebenbei zeigt „Charley“, dass zeitgenössische Kunst ohne Kommentar und Kontext kaum mehr als solche erkennbar ist. Das revolutionäre Konzept sowie ein beträchtlicher Teil des Inhalts bewegen sich zudem in einer Grauzone, die die Unterscheidung zwischen Faulheit und Finesse oft unmöglich macht. Schließlich muss man sich fragen, wem solche Bücher nützen, wenn sie ihrem revolutionären Ansatz zum Trotz kaum jemand außerhalb der Kunstwelt erreichen. Der Hybris der aufstrebenden Herausgeber etwa, den ausgewählten Künstlern, den Sammlern und Kuratoren oder allen zusammen? Auf dem Cover von „Charley“ findet sich eine Fotoarbeit des deutschen Künstlers John Bock, auf der uns sein halb verdecktes Gesicht aus einem großen Kochtopf voller Bohnen und gehackter Tomaten entgegenschaut. Fast will es so scheinen, als fräße die Revolution schon jetzt ihre eigenen Kinder.
THOMAS GIRST
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