dokumentation: Die US-Linke und die Folgen: Ein Beitrag
Beklemmende Perspektiven
(. . .) Jeder mitfühlende Amerikaner wird diese unschuldigen und fürchterlichen Tode betrauern. Bald aber werden Medienanalysten und Politiker die Bilder des Schutthaufens benutzen, um mehr Gelder für Polizei und Militär zu verlangen und um größere Überwachungs- und Eingriffsmöglichkeiten für den Staat zu fordern. Sie werden sich darauf berufen, dass es feige ist, Zivilisten zu töten, und eine rasche und gnadenlose Bestrafung zusichern. Und sie werden darüber hinweggehen, dass sie selbst jüngst den Übergriff auf Jugoslawien unterstützt haben, bei dem die Zivilbevölkerung des Landes terrorisiert wurde, um ein von ihnen geächtetes Regime zu Fall zu bringen. Sie werden ebenfalls ignorieren, dass das von den USA angeführte Embargo gegen den Irak Hunderttausende zivile Todesopfer gefordert hat – wieder mit dem Ziel, eine verhasste Regierung zu destabilisieren. Der Terrorismus von heute war abscheulich. Er ist aus einer vom Terror infizierten Welt hervorgegangen.
Seit langem liegt das Schicksal von Menschen überall in der Dritten Welt in der Hand von weit entfernten Machthabern. Diplomaten und Unternehmer aus der ersten Welt verfolgen Jahr für Jahr ihre Macht und Profitinteressen und bürden der Dritten Welt ein fast unvorstellbares Elend auf. Aufgrund unserer Entfernung von den Opfern und der grenzenlosen Verschleierung ihrer Notlage durch die Massenmedien erkennen wir Bürger der Ersten Welt nicht, dass es Mord ist, wenn eine Million Menschen verhungern, weil die Energien eines armen Landes von den Interessen des multinationalen Kapitals befehligt werden. Aber es ist Mord, und so haben Bevölkerungsgruppen in der Dritten Welt lange Zeit ihre beinahe vollständige Abhängigkeit von Entscheidungen ertragen, die von weit entfernten autoritären Machthabern getroffen werden, denen ihrer Zukunft völlig gleichgültig ist.
Der gleiche Zustand hat, zu einem gewissen Grad, nun die Bevölkerung der entwickelten Länder erreicht. All jene, die in den Angriffen von heute gestorben sind, mussten die Konsequenz einer Entscheidung tragen, die von weit entfernten Akteuren getroffen wurde, die dem von ihnen verursachten Blutbad völlig gefühllos gegenüberstehen. Die Bevölkerung der Ersten Welt teilt so zwar nicht die entwürdigenden Lebensbedingungen und die tägliche Armut in der Dritten Welt, aber einen Teil der Angst, die man in der Geiselhaft von anderen empfindet. Um über diesen Zustand hinwegzukommen, aber noch mehr um ihre sowieso schon grotesk aufgeblasene Macht zu vergrößern, werden die Machthaber in der Ersten Welt in den nächsten Wochen möglicherweise versuchen, über Jahrzehnte erarbeitete Fortschritte, zivile und legale Rechte betreffend, in Frage zu stellen. (. . .)
Wir können nur darauf hoffen, dass es gelingt, institutionelle Veränderungen zu schaffen, die das Profitstreben und die politische Unterdrückung mindern und zugleich das Bedürfnis verringern, mit sinnlosen und unmenschlichen Terrorakten loszuschlagen.
In den kommenden Wochen werden wir in Amerika eine Feier des Sicherheits- und des Machtdenkens ertragen müssen, eine Feier von Aufrüstung und vielleicht von Attentaten. (. . .) Ich befürchte, dass die amerikanischer Führer zynisch ihre Munitionsgurte bestücken und dabei versuchen werden, ihre Abgehörgerätschaften allgegenwärtig zu machen – in einem Versuch, öffentliche Freiheiten in den Verbrennungsofen zu verbannen.
In so einem Umfeld müssen wohlmeinende Menschen so oft wie möglich erklären, dass Terrorismus fruchtbar und wahnsinnig ist, aber dass das für das kapitalistische Business as usual genauso gilt. Und wir dürfen nicht davor zurückweichen, unserem Widerspruch Ausdruck zu verleihen, sondern wir müssen uns stärker gegen alle Art von Ungerechtigkeit einsetzen, durch massive öffentliche Demonstrationen und durch zivilen Ungehorsam.
MICHAEL ALBERT
Der Autor ist Politologe und Mitarbeiter des „Z-Magazins“ ( www.znet.org ), aus dem dieser Beitrag stammt
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