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documenta11 spotYinka Shonibare sucht nach den Zusammenhängen von Kultur- und Sextourismus

„Galanterie und Ehebruch“

Die Kutsche hängt in der Luft. Am Boden liegen Koffertruhen herum. Schaufensterpuppen sind zu einer Orgie angeordnet. Sie tragen üppig modellierte Kleider in der Art des 18. Jahrhunderts. Die Röcke gerafft, die Hosen geöffnet, verharren die Figuren in einem Tableau der gepflegten Ausschweifung. Doch lässt sich wenig über das wahre Ausmaß der Wollust sagen, denn den Akteuren fehlen die Köpfe, und ihre Gliedmaßen sind weitgehend verborgen, was auch die geschlechtliche Identität der Akteure in der Schwebe hält wie die Kutsche, unter der sich das alles abspielt. Der ausdruckslose Sex wird präsentiert wie eine Momentaufnahme aus der Werkstatt eines Wachsfigurenkabinetts. Enttäuscht zieht sich der Voyeur zurück und macht anderen Arten der Betrachung Platz.

In Yinka Shonibares Installation „Galanterie und Ehebruch“ verschränkt sich die Inszenierung der Orgie mit dem Thema des Reisens und den historischen Funktionen des Tourismus. Shonibare erläutert, dass sich seine kopflosen Lüstlinge auf der Grand Tour befinden. Der luxuriöse Initiationsritus der britischen Oberschicht im 18. Jahrhundert führte die jungen Adligen nach Frankreich und Italien, in die Schweiz oder nach Deutschland. An den Stätten der europäischen Kultur sollten sie die Wissenspolitur erhalten, die sie für künftige Aufgaben als Vertreter ihres Standes qualifiziert. Neben dem Erwerb einer angemessenen Bildung ging es dabei auch um Erfahrungen der Freiheit und der Überschreitung.

Die herrschaftlichen Streifzüge durch die Kulturlandschaften eröffneten nicht nur den Männern, sondern im späteren, revolutionären 18. Jahrhundert auch Frauen die Potenziale einer Erotik der Aufklärung, Dialektik inbegriffen. Auf der einen Seite stand das emanzipierende Abenteuer illegitimer Eskapaden, auf der anderen Seite machte die Grand Tour die Länder und Leute auf ihrer Route zu Dienstleistungsanbietern eines kombinierten Kultur- und Sextourismus.

Nicht auszuschließen, dass der in London lebende Nigerianer Shonibare, der seit den Neunzigerjahren den Zusammenhang von Kunst, Postkolonialismus, Migration und Reisen virtuos kommentiert, seinem Freund Okwui Enwezor eine doppeldeutige Botschaft übermitteln wollte. Zweifellos ist auch die documenta eine kunsttouristische Attraktion – mit allen sexökonomischen Nebeneffekten, die das Ereignis für eine Stadt wie Kassel und für das Miles-&-More-Kartell des Kunstbetriebs mit sich bringt. Zugleich betreibt „Galanterie und Ehebruch“ eine Genealogie der kulturellen Globalisierung, ein anderes Thema der Documenta11.

Die Glückssuche der Aristokraten des 18. Jahrhunderts belebte die Kulturproduktion der bereisten Länder und den Verkehr der Ideologien. Parallel zur brutalen Kolonisierung ferner Kontinente wurde Alteuropa zum Schauplatz der touristischen Erschließung im Zeichen von Sex und Kunst.

Shonibare ist an der Ambivalenz dieser Bildungsreisen interessiert, die nicht nur Eroberungen, sondern auch Fluchten waren. Fast scheint es, als würde er mit der Diaspora der Privilegierten sympathisieren, er verzichtet jedenfalls auf die Üblichkeiten einer postkolonialen Kritik. Stattdessen hüllt Shonibare die Transgressionen der kopflosen Adligen in Stoffe, die seit Jahren zu seinem Markenzeichen geworden sind: farbenprächtige Textilien, die als „typisch afrikanisch“ gelten, deren Entwürfe aber ursprünglich von holländischen und englischen Tuchmachern stammen, welche wiederum von indonesischen Batiken angeregt wurden. Stoffe und Zeichen gehen auf Reisen und schreiben die Geschichten von Lust und Globalisierung. So legt sich über die Grand Tour der 18. Jahrhunderts die Grand Tour der Differenz. TOM HOLERT

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