die wahrheit: Tour de Demütigung
Sie hatten schon wieder mein Fahrrad geklaut. Hätten Sie mich doch nur geschlagen, hätten sie mir den Esel im ritterlichen Kampf Mann gegen Maus abgenommen, alles wäre....
Sie hatten schon wieder mein Fahrrad geklaut. Hätten Sie mich doch nur geschlagen, hätten sie mir den Esel im ritterlichen Kampf Mann gegen Maus abgenommen, alles wäre längst vergessen, aber so: Die Narben, die man nicht sieht, die bleiben, die "seelischen" nämlich!
Können diese Menschen auch nur "ansatzweise" (J. B. Kerner) ermessen, was mir bevorstand? Sofort war ich wieder ein Zwölfjähriger in Turnhosen, der sich mit Lehrern, Kittelträgern, ungerechten Schiedsrichtern und allgemeiner Willkürherrschaft auseinandersetzen musste. Oder auf heutige Verhältnisse übertragen, sollten die Gipfel der Leiden in den nächsten Wochen "Fundbüro", "Polizeiwache" und "ZEG Fahrrad Müller - mehr als nur Fahrrad" heißen. Orte des Schreckens, an denen das historische Westdeutschland des öffentlichen Dienstes heraufbeschwören wurde.
Zunächst ging es zur Polizei. Um das geklaute Gerät "zur Anzeige zu bringen", gegen "Unbekannt". Kaum angekommen, wir wechseln ins dramatische Präsenz, hausmeistert mich prompt ein Schnauzbart an: "Naa, wo wolln wa denn hin, junger Mann?" - "Äh, mein Fahrrad " - "Einmal ganz durch. Deswegen steht da vorne ja ein Schild. Einfach mal leeesen!" - Herzlich willkommen in der Welt der Bademeister, Platzwarte und Unterhemdkleingärtner. Ich habe sie immer schon provoziert, einfach so, qua bloßer Existenz.
Es geht weiter, einmal ganz durch, dann rechts, ins Bürobüro. Ich bin wieder im Kreiswehrersatzamt, bei der Musterung. Ein merkwürdiger Ehrgeiz nimmt mich in den Schwitzkasten und kämpft mit meinem Restverstand: Jetzt einfach weiter den Trottel spielen oder doch einen auf bella figura machen?
König Gemütlichkeit nimmt mir diese Grundsatzfrage ab. Er hat hier sein Reich als Kommissar Speiche errichtet - mit ausladenden Topfpflanzen (Gummibaum) und lustigen Sprüchen ("Bin auf Arbeit, nicht auf der Flucht"). Die vollbärtige Jovialitätsmaschine im breitgesessenen Vollcord hat sich ihre unzähligen Speichen und Sporen sicher in vielen Jahrzehnten als Kontaktbereichsbeamter der Herzen erworben. "So, wo ist denn meine Lesebrille", werde ich begrüßt. "Ah, die hab ich ja schon auf, hehe." Wir tauschen uns über "das verrückte Wetter" aus. Wir geben meine Daten ein, Einfinger-Adlersuchsystem. Wir schütteln die Köpfe über die Explosion der Managergehälter, "Wetten, dass ?" auf Mallorca und wieder "das verrückte Wetter". So, bitte hier unterschreiben. Der Menschenfischer ist schon beim versteckten "Du" angekommen: "Hamwa nicht auch mal beim TSV Lehndorf Fußball gespielt?" O Gott, jetzt ist es aber schleunigst time to say goodbye.
Am nächsten Tag kaufe ich mir ein neues Fahrrad. Mit Kindersitzhalterung und Betonbügelschloss, Sicherheitsstufe Fort Knox. "Passen denn Kindersitz- und Schlosshalterung an den Rahmen?", gebe ich zu bedenken. "Kriegen wir schon passig", werde ich für eine halbe Stunde weggeschickt. Wieder zurück, passt nichts. "Wie soll das denn gehen? Da musste das Schloss aufm Sattel mitnehmen", duzt mich der tätowierte Monteur mit Gewalthintergrund. Ich gebe auf und kein Widerwort mehr.
Morgen kommt das Fundbüro dran. Ich habe jetzt schon Angst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz