die wahrheit: Das Männlein auf der Brücke
Es war auf Sizilien. Und ich, wie es meine Art ist, war ziellos mit dem Gefährt unterwegs. Es begann schon zu dunkeln, als ich...
Es war auf Sizilien. Und ich, wie es meine Art ist, war ziellos mit dem Gefährt unterwegs. Es begann schon zu dunkeln, als ich - eingereiht in eine stattliche Schlange von Automobilen - an eine Brücke über ein Flüsschen gelangte. An dieser Situation wäre nun nichts Erzählenswertes, wenn diese Brücke nicht ein zwar kleines, aber beispielgebendes Drama geboten hätte.
Sie, die Brücke, wurde nämlich renoviert oder stabilisiert, oder was auch immer, und war nur einspurig befahrbar. Ich hatte das Glück, dass sich meine Schlange gerade in Bewegung befand und konnte somit ohne Probleme das Brücklein überqueren. Am anderen Ende aber fand das Drama statt. Ein Drama mit dem Titel: "Wie ungerecht das Schicksal sein kann" beziehungsweise "Warum ausgerechnet ich?".
Dort stand nämlich, heftig gestikulierend, seine Unschuld beteuernd, ein bedauernswerter italienischer Mensch. Ein Männlein. Der Arme bildete mit seinem kleinen Fiat den Anfang einer anderen, schon sehr langen Schlange, die ebenfalls hupenderweise begehrte, die Brücke zu überqueren. Nur war dies absolut unmöglich, so lange meine Schlange in Bewegung und auf der Brücke war. Der einzig passende Begriff dafür heißt: Zwickmühle.
Wenn das Männlein sich mit seinem kleinen Fiat auf die Brücke gezwängt hätte, wäre es unweigerlich zu einem Chaos gekommen. Dann hätten beide Schlangen gestockt, und ein Weiterkommen wäre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Alle Autofahrer hätten sich auf das Männlein gestürzt, um es zu verprügeln.
Die Alternative für das Männlein war aber nicht viel besser. Er musste ausharren und sich den Zorn seiner Schlange zuziehen. Es gab keine Lösung. Das Schicksal hatte ihn ausgerechnet zu dem Zeitpunkt an die Brücke gestellt, als meine Schlange die Gebietshoheit übernahm. Der Gestikulierer war dazu verdammt, den Prügelknaben abzugeben. Vielleicht für Stunden. Vielleicht würden sich die Fahrer aus der immer länger werdenden Schlange zusammenrotten, ihn lynchen und seinen kleinen Fiat im Flüsschen versenken. Vielleicht würde er sich aus Verzweiflung selbst in das Flüsschen stürzen. Jedenfalls würde er inständig darauf hoffen, dass irgendeiner aus meiner Schlange Erbarmen hätte und seinerseits diese Rolle übernehmen würde.
Ich kann mich noch an die verzweifelten Augen des Männleins erinnern, als ich ihn zügig passierte. Und an die Gleichzeitigkeit von Erleichterung, nicht in dieser Zwickmühle zu stecken, und schlechtem Gewissen, weil ich nicht den Mut hatte, ihn zu erlösen. Um meinerseits die Rolle des Prügelknaben zu übernehmen. Eigentlich hätte ich es tun müssen. Moralischer Mensch, für den ich mich halte. Oder auch nur der Fairness halber und weil ich nicht dumpf genug war, um seine verzweifelte Lage nicht zu verstehen. Ich tat es nicht.
Dafür muss ich bis ans Ende meiner Tage büßen. Wenn ich die Muße habe, ganz allein und für mich zu sein. Wenn wie Bojen, die unter der Oberfläche des unendlichen Meeres der Erinnerungen lauern, die Situationen auftauchen, die mich über Jahre und Jahrzehnte verfolgen und zu mir sprechen: Da hättest du dich anders verhalten müssen.
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