die wahrheit: Endlich berühmte Zähne
Wie ein Brummkreisel wirbelte der Zahnarzt durch seine Praxis. Aufgeregt rief er seine Kollegen herbei, und per Telefon, SMS, Fax, Telegramm und Ponyexpress...
... wurden gleich alle anderen Zahnärzte der Welt informiert. In Rudeln reisten sie an, die Quäler, um die unglaubliche Sensation zu besichtigen: mich!
Was war geschehen? Ich hatte ganz normales Zahnweh. Hatte ich gedacht. Aber in Wirklichkeit hatte ich etwas Sensationelles, etwas Seltenes, etwas Herausragendes, etwas so Besonderes, dass es unter achtzig Millionen Menschen nur einer hat, etwas, das noch kein lebender Zahnarzt tatsächlich jemals sah, eine Art Einhorn unter den Zahnkrankheiten, ein Drache des Kiefers, eine Legende, von der nur Lehrbücher munkelten.
Und nun standen die Weißkittel staunend vor dem Röntgenbild des bösen Beißers und riefen immerzu "Ohhh" und "Ahhh", blickten mich bewundernd an und klopften mir anerkennend auf die Schulter.
Wenn ich auch die Begeisterung nicht gleich von Anfang an richtig teilen konnte, wuchs in mir das Bewusstsein, etwas ganz Außerordentliches zu verkörpern. Um mir begreiflich zu machen, woran genau ich eigentlich leide, formierten sich die Zahnärzte, die sich schon zu einer Fangemeinde zusammengeschlossen hatten, nun auch noch zu einer Laienspielgruppe und spielten mir das schöne Theaterstück "Innere Resorption" vor: 31 Ärzte standen ordentlich nebeneinander, lachten und sahen glücklich aus. Nur einer zwischendrin knurrte, fluchte, biss sich selbst in die Hand, vollführte einen Veitstanz, zog ein böses Gesicht, dann wieder krähte er wie ein Baby und stampfte wütend mit den Beinen, bevor er sich mit hochrotem Kopf auf den Fußboden warf und ohrenbetäubend kreischte. Der Darsteller meines schmerzenden Zahnes hatte offensichtlich noch nichts vom method acting gehört. Meiner Meinung nach war er nicht besonders gut, aber seis drum, er war ja auch kein ausgebildeter Schauspieler.
Nach dem vielen Lob und dem Ratschlag, bei so viel Glück, wie ich es hätte, solle ich unbedingt Lotto spielen, beriet sich die Ärzteschaft darüber, wie am besten Kapital aus dem Wunderding, wie mein Zahn eines war, zu schlagen sei. Mein zaghafter Vorschlag, den Zahn einfach zu behandeln, bis er nicht mehr weh täte, wurde empört abgelehnt. Denn, so das Argument, dann wäre er ja wieder heile und nichts Besonderes mehr. Außerdem wisse man gar nicht, wie "es" zu behandeln sei, so weit sei die Wissenschaft noch nicht.
Es kam, wie es kommen musste: Ich wurde gefesselt, auf einen Wagen geladen, bekam einen Ring durch die Nase gezogen und nun werde ich auf der ganzen Welt in Zahnkliniken, an Universitäten und auf Kongressen vorgeführt. Inzwischen stehen die Massen Schlange, um mir in den Mund sehen zu dürfen. Ein Hollywood-Film ist auch schon in Planung. Und Papst Benedikt wird mich morgen heiligsprechen. Ich bekomme dennoch einigermaßen gutes Essen, und mehr als drei Vorstellungen täglich werden mir nicht zugemutet. Alle zwei Wochen habe ich einen ganzen Ruhetag. Mein Stall wird gut gereinigt, und manchmal kraulen mich Kinder hinter den Ohren. Das sind die Momente, in denen ich glücklich bin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!