Als älterer Schwuler (Jahrgang 1955) stößt Dein Artikel bei mir auf Unverständnis. Daß Umfragen über Gewalt gegen Schwule vor zwanzig oder dreißig Jahren nicht existierten, schier unmöglich waren, zeigt nur, wie "unaussprechlich" und tabuisiert nicht nur das Thema Gewalt gegen Schwule damals war, sondern die Homosexualität an sich (ganz dem kirchlich-mittelalterlichen Gebot gehorchend, das "peccatum mutum", die "stumme Sünde", als guter Christ nicht beim Namen zu nennen.) Es zeigt aber auch, wie "richtig" oder zumindest "verdient" solche "Straf- u. Züchtigungsmaßnahmen" der dummen (oder, politisch korrekter: "unaufgeklärten") und dadurch umso gefährlicheren Mehrheit der Heteros damals erschienen. Das heißt, wenn sie dieses "Schwuleklatschen" und die sie fördernde öffentliche Verhöhnung Homosexueller, ganz wie die Deutschen in den 1930ern beim Anblick verhöhnter, verfolgter und verschleppter Juden, durch Weggucken u. -hören nicht gänzlich verdrängten. Es verdeutlicht auch auf schmerzhafte Weise, wie entrechtet, wie versteckt, wie unfrei wir damals leben MUSSTEN. Nicht aus Scham oder mangelndem Selbstwertgefühl, sondern aus berechtigter Angst vor tätlichen Übergriffen seitens unserer heterosexuellen "Mitbürger" (die meistens, den Nazis nicht ungleich, in Gruppen auftraten) waren unsere Kneipen, bis in die frühen 80er Jahre, fast alle durch strenge Gesichtskontrollen und verriegelte Türen gesichert. Wir lebten damals wahrhaftig im "güldenen Käfig," und haßten es, wohl wissend, was uns da draußen, in der Welt der Heteros, an Feindseligkeit, tagtäglicher Unterdrückung, Unsichtbarmachung, bösartigem Getuschel und Verachtung erwartete. Schon vergessen, wie Du Dich damals, in einem Schwulenratgeber (siehe unten), über diese "festen Burgen" (die versteckten Schwulenkneipen), und damit über UNS, mokiertest?[1] Mir fällt auf, daß Du Dich immer noch, tendenziell, "schützend" vor die, die uns verfolgt haben, stellst, während Du umso härter mit den Schwulen ins Gericht gehst, wo es doch eindeutig die Heteros (und auch ein paar versprengte, verkappte Schwule/Lesben) sind, die uns bis vor kurzem aktiv verhöhnt, verfemt, verfolgt, aus dem Elternhaus oder der Schule geworfen, die Arbeit gekündigt, aus der Kirche oder Synagoge exkommuniziert, aus dem Militärdienst entlassen, unsere Wohnungen wegen unseres angeblich "unzüchtigen Lebenswandels" zwangsgeräumt, uns auf der Straße, vor der Schwulenkneipe, in der elterlichen Wohnung, verprügelt oder gar ermordet haben? Die Unsichtbar- und Verächtlichmachung (wenn auch auf einer weit verlogeneren und hinterfotzigeren Ebene), oder Reduzierung der Homosexualität aufs Private, Oberflächliche, Klischeehafte, "Exzentrische", Komödiantische (und somit aufs Harmlose, Gegenstandslose?), im heteronormativen Alltag geht weiter. Der gewünschte Nebeneffekt jedenfalls, die Aufrechterhaltung der heterosexuellen Vorherrschaft, bleibt.
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[1] Siehe die "Ein'-feste-Burg"-Bilderreihe in, Matthias Frings u. Elmar Kraushaar: "Männer. Liebe: Ein Handbuch für Schwule und alle, die es werden wollen," Rowohlt, 1983.
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