die wahrheit: Eine Million Baustellen
Das Leben ist eine Baustelle, sagt ein Filmtitel jüngeren Datums, den die eine oder der andere zum alltäglichen Fazit erkoren hat. Was manche wiederum sofort korrigieren: Das Leben ist nicht eine Baustelle...
... es besteht aus einer Million Baustellen.
Ob eine oder eine Million: Das in dem Bild durchscheinende Lob des Provisorischen schieben wir zunächst beiseite mit der Frage einer Freundin: "Alles wird gut, dauert nur wahrscheinlich, oder?"
Stattdessen sei das Augenmerk gerichtet auf eine Baugrube hierorts, die, sobald sie einem entgegengähnt, entweder homerisches Gelächter entfacht oder ein mal müdes, mal neunmalkluges, mal weltgewandtes Lächeln nebst Kopfschütteln auslöst.
Wie gemeinhin üblich ist der Bauzaun mit dem Namen des Projekts verziert. Das entstehende Wohnquartier nennt sich "Sixth Sense Living". Was mag es nur bedeuten? Glücklicherweise hat der Bauherr eine Internetadresse eingerichtet: "Der sechste Sinn ist ein umgangssprachlicher Platzhalter für viele ungewöhnliche, teilweise mysteriöse, aber offenbar zur realen Welt irgendwie dazugehörende Energieformen."
Der Ton verspricht so etwas wie spirituell ausgerichtete Instantphilosophie, transzendenten Okkultismus, jedenfalls etwas, das schnurz mal piepe betrachtet dicht dran liegt an nicht ganz dichtem Schwurbelgedöns. Dem gelegentlich Wissbegierigen springt ein zentraler Begriff auf der Titelseite entgegen. "Feinstofflichkeit ist etwas, was wir zwar nicht messen, aber durch unsere Sinne intuitiv und körperlich wahrnehmen können. Nach feinstofflichen Prinzipien Häuser zu bauen bedeutet, Bewohnern … eine bautechnische Unterstützung anzubieten, über Harmonie, Balance und Regeneration zu Glück und Zufriedenheit zu gelangen … Anspruchsvolle Materialität entfaltet ihren Sinn aber erst durch Spiritualität."
Inmitten einer Ära des verwilderten Turbokapitalismus, implantiert mit Frondienstleistung und Stress, vulgo: Mühsal und Plackerei, so vergleichsweise grundlos sie auch empfunden sein mögen, mittendrin entfalten sich feinstoffliche Sensibilität und physisch spürbare Metagenesung. Namentlich versorgen auch Design-Mineralwässer inzwischen unser Dasein mit "Spirit" oder "Balance". Wer bräuchte abwechselnd beides nicht? Wer sehnt sich nicht nach wenigstens käuflichem Ausgleich? "Sixth Sense Living" - da gehts lang!
Dass im Wortfeld der Feinstofflichkeit wie von selbst auch Feinstaub, Feinkost, Feinwaschmittel herumschweben - geschenkt. Weitaus aufklärerischer und von der Vernunft lässig nahegelegt ist in diesem Fall etwas anderes, nämlich der Umstand, dass sich ein paar Meter entfernt von dem Bauvorhaben ein Friedhof ausbreitet, auf dem die sterblichen Überreste des Universalkünstlers Kurt Schwitters in der Grube liegen, der 1948 in der Emigration starb. Auf dem Grabstein ein einziger Satz: "Man kann ja nie wissen".
Vor allem jedoch gemahnt der dem "Sixth Sense Living" benachbarte Gottesacker an den Schnitter Tod, der die Sense schwingt. Und nu muss für heute auch an dieser Stelle Feierabend sein. Schluss! Aus! Sense!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste