die wahrheit: Verschluckt vom Berg
Ein Ausflug zum Nürburgring und in die Kindheit an der Nordschleife.
Wenn man keine Lust mehr hat, jedes Jahr rund 400 Euro für eine Eintrittskarte zu berappen, um im belgischen Spa-Francorchamps einem Formel-1-Rennen halbwegs kommod beiwohnen zu können, fährt man halt woanders hin, denn der Brauch will gepflegt sein, die Wegberger Rennsportkameraden Pauli, Rudi und Thomas, die wir vor zwölf Jahren in den Ardennen kennengelernt haben, alle zwölf Monate wiederzusehen.
Also soll's zum 1.000-Kilometer-Rennen auf dem Nürburgring gehen, da erhielte man für zwanzig Euro Zugang zur Haupttribüne, meint Pauli. Mir leuchtet das ein. Die schönsten Ausflüge meiner Kindheit führten in die Eifel, an den alten Nürburgring, die berühmte Nordschleife - und zwar stets zum 1.000-Kilometer-Rennen. Am frühen Sonntagmorgen wurden die Kühltaschen in den Familien-Pkw gepackt, randvoll mit Buletten, Brot, Käse, Schokolade und Säften, und dann kutschierte uns der Vater nach Breidscheid bei Adenau.
Am tiefsten Punkt der einzigartigen Berg-und-Talbahn suchten wir uns einen Flecken auf einer stark abfallenden Wiese, breiteten die Decken aus, studierten das Programmheft und warteten aufgeregt auf das Donnern der Motoren, das nach dem Start zum erstenmal zu hören war, wenn die Boliden durch den Adenauer Forst nahten.
Es gibt diese Stelle, diese Wiese immer noch, auch das altmodische Hotel und die schlichte Imbissstation hinter der Linksbiegung neben der Brücke, auf der die Fahrer Gas gaben, um wagemutig in die anschließende Rechtskurve zu brettern, was so wirkte, als würden die Autos vom Berg verschluckt.
Dieser Ort nimmt in meiner topographisch-biographischen Privatmythologie einen privilegierten Platz ein. Man hatte eine hervorragende Aussicht, und man hatte sechs Stunden Zeit - so lange dauert ein derartiger Langstreckenlauf -, Bob Wollek die Daumen zu drücken, dem Teufelskerl aus dem Elsaß, der einen grünen Porsche 935 steuerte. Aber auch Rolf Stommelen und Klaus Ludwig galten meine Sympathien.
Dreißig Jahre später treffen wir uns kurz vor zwölf auf Tribüne 4 am Ende der Start-Ziel-Geraden des neuen, 1984 eingeweihten Nürburgrings. In der Ferne, zwischen dunkelgrünen Bergkuppen, sind Teile der alten, über zwanzig Kilometer langen Strecke zu sehen. Wehmut ergreift einen, denn der hiesige öde Konfektionskurs ist weder ein anständiges Spa-Surrogat noch geeignet, den Zauber aus versunkenen Tagen wiederzubeleben.
Man hockt da rum wie in einem dieser seelenlosen Fußballstadien, umgeben von adipositösen Kindern, die die Visagen verziehen, sobald sie der Hauch einer Zigarettenrauchwolke streift, Digitalkamerafetischisten und Trantüten aller Herren Bundesländer, bereichert um diverse Niederländer, die wenigstens irgendwelchen interessanten chemischen Substanzen zugesprochen zu haben scheinen.
An eine Plauderei mit den Freunden ist nicht zu denken. Nach ein paar Minuten hat sich das Feld so weit auseinandergezogen, dass einem ununterbrochen Karren vor der Nase herum- und um die Ohren knattern. Gewiss, der Besuch einer solchen Veranstaltung impliziert akustische Phänomene der nämlichen Art, allein, damit sich die soziale und impressive Dynamik eines Autorennens zu entwickeln vermag, bedarf es neben dem Lärm genausosehr der Ruhepausen, in denen Entspannung und erneuter Spannungsaufbau statthaben.
Nach drei von 195 Umläufen finden die ersten Überrundungen statt. Der Parcours ist viel zu kurz für ein Teilnehmerfeld, in dem die unterschiedlichsten Modelle und PS-Kategorien antreten. Eine Viertelstunde später weiß kein Schwein mehr, welcher Wagen an welcher Position liegt. Allenthalben sind schwer genervte Gesichter auszumachen.
Dass die Corvette "am geilsten" klinge, hört man auf dem Klo unter der Tribüne - sofern man noch etwas hört. Nebenan, in einem Ambiente, das die farbigsten Assoziationen mit Stammheim weckt, schmeckt das Bier sogar katastrophaler als in Frankfurt.
Auf der anderen Seite der Geraden säumen den Weg zum Fahrerlager quatschige Bäume, die Rennfahrern zugeeignet sind: zum Beispiel ein winziger "Christian-Danner-Sequoia", der wohl auf die gigantischen Verbaldarbietungen des RTL-Experten bei Formel-1-Übertragungen verweisen soll, der dem ersten deutschen Formel-1-Piloten gewidmete "Paul-Pietsch-Spitz-Ahorn" und die "Hans-Joachim-Stuck-Lärche".
Im Fahrerlager gibt es einen Wurst- und einen Kaffeestand. In den Ohren rattert und rauscht es. Sie könnten hier ja zumindest einen schallgedämmten Biergarten aufbauen, doch auch das können sie nicht. Wer das alles bis sechs Uhr durchhält, ist reif für den Irakkrieg.
Nach zweieinhalb Stunden erklärt man den Wegbergern, den Ausflug abzubrechen, und stattet noch dem Niederwalddenkmal bei Rüdesheim einen Besuch ab. Im Souvenirshop guckt man sich schließlich nach dem uneinholbar scheußlichsten Mitbringsel um. Schnapsgläser, Tassen, Uhren, Karten - alles da, alles von erlesener optischer Verfehltheit. Die Wahl fällt allerdings auf einen klobigen Glasaschenbecher mit vergoldetem Rand und einer bunten Zeichnung auf dem Boden. Grauenhafter geht es nicht.
"Ich hab Sie beobachtet, Sie haben sich viel Zeit gelassen", sagt der Mann an der Kasse, der sich sofort als Betreiber des Ladens zu erkennen gibt. Wir sind die einzigen Kunden und gestehen: "Ja, wir haben das mit Abstand hässlichste aller Souvenirs gesucht." - "Nicht schlecht, das Ding", meint er, "aber da gibt es noch viel größeren Scheißdreck. Was die Leute für einen Scheißdreck kaufen! Ich hab nur Scheißdreck hier, nur Schrott! Unglaublich! Im Winter bin ich in Kalifornien, ich hab da noch 'nen Laden, und da verscherbel ich denselben Scheißdreck in rauhen Mengen - natürlich überwiegend an deutsche Touristen! Unfassbar, was die sich zu Hause für einen Scheißdreck hinstellen!"
Wir bedanken uns artig und wackeln zum Auto. Das nächste Mal fahren wir gleich zum Niederwalddenkmal. Der Nürburgring kann uns endgültig mal.
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