die wahrheit: gedankensprünge überm abgrund
"Der Kampf gegen die Finanzkrise geht weiter". Ein Nachrichtenrest aus dem Radio klang in mir nach, als ich zum Büro trottete. Nicht nur der Kampf geht weiter.
"Der Kampf gegen die Finanzkrise geht weiter". Ein Nachrichtenrest aus dem Radio klang in mir nach, als ich zum Büro trottete. Nicht nur der Kampf geht weiter. Quietschend bremste ein Mercedes.
Mit jenem schlichten Satz wähnte sich das innere Ohr nicht ausgelastet. Überdies konkurrierten zwei Versbrocken miteinander, wollten vielmehr beim nächsten Take im Studio miteinander verwoben werden. Auf der einen Tonspur suchten Zeilen aus Brechts "Lied der müden Empörer" nach geeigneten Akkorden: "Gott pfeift die schönste Melodie / Stets aus dem letzten Loch". In einer benachbarten Tonspur lief ein Song von Trio: "Ich träume immerzu von einem Liebeslexikon / Es läuft nichts in der Richtung, deshalb träum ich ja davon". Wie so oft im Leben galt es, Rhythmen zu harmonisieren. Um die Zeit zu dehnen, bog ich kurzerhand ab, als Klapp mit seinen drei oder vier Yorkshire-Terriern kreuzte. So aufgeregt quirlen die Hündchen miteinander, ihre Anzahl ist kaum verlässlich auszumachen. Klapps Aufenthalt hier ist immer nur eine Unterbrechung seiner fortwährenden Reise durch Europa, von einem Kongress in Córdoba zu einem Vortrag nach Istanbul oder zu Freunden nach Göteborg.
Diesmal jedoch erzählte er von einem Ausflug in die Umgebung. "Ein Wegweiser zeigte zwei Kilometer bis Reden an. Mir war aber nach Schweigen zumute, deshalb bog ich links ab." Schnack wie diesen mag ich gern, also begleitete ich Klapp eine Weile. Die geruhsame Kurzweil wäre vielleicht sogar zum Widerstandskampf umzudeuten gewesen gegen Turbulenzen und Taumel, Kollaps, Erzittern und Beben in Banken und an Börsen überm Abgrund.
"Plötzlich rollten wir entlang einer Apfelbaumchaussee. Und linker Hand die Ausläufer einer Obstplantage. Ich hielt an." Am Zaun habe der Besitzer den Bäumchen Schilder angeheftet. "Und was durfte ich lesen vor dem dritten Gewächs? ,Clapps Liebling - anspruchslose Frühbirne für Frischverzehr'." - "Na siehste", räsonierte ich. "Nein, hörste, nicht siehste. Es wird mit C geschrieben", erwiderte Klapp, sich inzwischen dem Gestrüpp aus Hundeleinen entwindend, in das er nicht zum ersten Mal verheddert war.
Anscheinend gedrängt, etwas beizusteuern zum Austausch von Geschichten, schloss ich einen winzigen Gedankensprung später eine Anekdote an, die zu meinen Favoriten zählt im privaten Meta-Sexlexikon: "Im Einkaufswagen einer Kundin an der Supermarktkasse lag ein Ensemble aus einer Dose Rohrfrei, einer Schachtel Dickmanns und einer Packung Tampons. Na?"
Klapp runzelte die Stirn: "Die Dose Rohrfrei haben Sie dazuerfunden, stimmts?" Ich gestand es und meinte, manchmal müsse man denn doch um eine Idee zuspitzen. Verlegen um eine echte Alltagspointe, wollte ich Klügeres schwätzen, kurz vorm Abschied - wir waren nun leidlich kreuz und quer durchs Viertel gestapft - jene Weisheit weitergeben, die besagt, es sei nicht wahr, dass die kürzeste Linie immer die Gerade ist. Da sagte Klapp, als habe ers vernommen: "Wahr aber ist, dass dieser kluge Satz zuweilen missbraucht wird als Ausrede oder Rechtfertigung. Wie alle klugen Sätze." Und biss in einen Apfel. Der eine oder andere Kampf geht weiter.
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