die wahrheit: hände hoch und alles fallenlassen
"Mit leeren Händen trete ich vor Gott", las ich neulich als Grabsteininschrift. Endlich, möchte man denken, denn im irdischen Leben bewegt sich niemand ...
"Mit leeren Händen trete ich vor Gott", las ich neulich als Grabsteininschrift. Endlich, möchte man denken, denn im irdischen Leben bewegt sich niemand jemals mit leeren Händen. Schon den ganz frisch geschlüpften Menschenkindern wird die Rassel und der unvermeidliche ultrakrümelige Reiskeks in die Hand gedrückt.
Dieser wiederum wird je nach Anlass abgelöst von Dauerlutschern, Sandschaufeln, Barbiepuppen, Winkelementen aus der Welt des Sportes oder der Politik. Seltsam beliebt sind besonders Luftballons, die die Eigenschaft haben, die kleinen Besitzer im Moment ihres Davonfliegens in lautstarke Trauer zu stürzen.
Es folgt, auf einen Tag begrenzt, aber absolut klassisch, die Schultüte. Ab diesem Zeitpunkt wird ein Turnbeutel getragen beziehungsweise meist über den Boden geschleift, komplettiert durch eine Eiswaffel oder einen Burger in der jeweils anderen Hand.
Dies ist eine wichtige Vorbereitungsphase auf die Anforderungen der Adoleszenz. Betrachten wir einmal den männlichen Teil der Jugend auf unseren Straßen und Plätzen, in den öffentlichen Verkehrsmitteln und selbst bei Muttern auf der Couch: die eine Hand ist an Handy oder Joystick, die andere an der Bierflasche festgewachsen. Da muss man sich doch fragen, wie der Nachwuchs die für diese Zeit vorgeschriebene intensive Masturbation bewältigt.
Neuerdings wird auf der Straße viel geraucht. Sind die Hände bereits mit oben genannten Requisiten belegt, wird es richtig kompliziert. Aber die Menschen sind erfinderisch. Denken wir nur an Onkel Günther selig, der im letzten großen Krieg anderthalb Arme bei Stalingrad liegenließ. Dank einer Konstruktion aus Draht und Holz konnte der rüstige Rentner sowohl das Skatblatt halten als auch die brennende Zigarre zum Munde führen, die praktischerweise am Bierglas festgeklemmt war. Sowas muss es doch auch für unterwegs geben!
Doch seien wir nicht ungerecht. Das Leben wird phasenweise auch wieder leichter. So scheint es neuerdings nicht mehr unbedingt Pflicht zu sein, mit einem wichtigen "Meine Gesundheit ist mein höchstes Gut"-Gesichtsausdruck riesige Wasserflaschen herumzutragen. Nur die Senioren unter uns mögen sich noch an gegen die Brust gedrückte Kofferradios oder die Handgelenktasche für den Herrn erinnern. In den Siebzigerjahren war außerdem die schreckliche Jojo-Seuche so verbreitet, dass Millionen von Bürgern aller Altersklassen an rhythmischem Armzucken litten.
In meinem Viertel trägt man iPhone mit Bionade und komplettiert das Ganze mit einem vor den Bauch gebundenen Baby. Wer mit Letzterem nicht dienen kann, erträgt das Außenseitertum bis zum ersten Enkelkind, kauft ersatzweise einen Mops oder zieht weg. Ich weiß noch nicht, wie ich mich entscheiden soll.
Zumal ich wirklich gern die Hände frei habe. Wissen junge Menschen heute denn nicht mehr, was das für wunderbare Dinger sind? Man kann damit gestikulieren, streicheln, Daumen drücken, die Liebsten unsittlich berühren oder Schattenspiele machen - sogar auf der Straße!
Die Voraussetzung ist, dass die Hände leer sind. Ob man nun vor Gott tritt oder lieber nicht.
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