die wahrheit: Landplage Tourist
Ein großes Wehklagen überkam in dieser Woche die deutsche Tourismusbranche: "Tourismus-Wachstum in Deutschland unter Weltniveau", meldeten...
Ein großes Wehklagen überkam in dieser Woche die deutsche Tourismusbranche: "Tourismus-Wachstum in Deutschland unter Weltniveau", meldeten die Agenturen. Weltniveau? Das hörte man ja zuletzt aus dem Spitzenland des Tourismus, der DDR. Aber will man das überhaupt? Weltniveau? Oder ist das nicht die gute Nachricht der Woche? Dass nicht noch mehr Touristen nach Deutschland kommen? Ist der Tourist doch eine einzige Landplage.
Der Tourist ist nie allein unterwegs. Gern tritt er als Masse auf. Und die Masse ist bekanntlich träge. Deshalb ist der Tourist auch ein Herumhocker. Eigentlich müsste er sich dauernd bewegen, deshalb ist er ja zum Touristen geworden, um von Punkt A nach Punkt B zu reisen. Doch lieber steht der Tourist herum, ohne Ziel, ohne Sinn und Verstand. Dem Passanten, der es eilig hat, verstellt er den Weg - am liebsten, wenn er aus der U-Bahn kommt. Dann rührt sich der Tourist aus reiner Bosheit nicht mehr. Auch am Ende einer Treppe bricht dem Touristen jeder Fortbewegungswille weg. Wieder bleibt er wie angewurzelt stehen und hält Maulaffen feil und wundert sich wie blöde über alles, was um ihn herum geschieht.
Wenn der Tourist nicht im Café hockt, dann schlurft er mit offenem Maul und großen Augen durch die Straßen. Doch besieht er sich nicht die Schaufenster. Das braucht er nicht, denn er kauft ohnehin den letzten Dreck zusammen: mit irre lustigen Sprüchen bedruckte T-Shirts, alte Militärmützen und Fahnen, immer wieder Fahnen.
Für den Touristen ist der Imbiss erschaffen worden, der den Touristen als Mülleimer nutzt. Alles, was Brausehersteller zusammengebrodelt haben an süßer Limonade, wird dort in den Touristen hineingegossen. Von der hundsmiserablen Wurst und den labbrigen Hackfleischbrötchen ganz zu schweigen, die jeder Einheimische als Sondermüll verklappen würde, der Tourist jedoch zu sich nimmt, denn er braucht den Imbiss, um sein sowieso schon nur auf sehr geringer Betriebstemperatur arbeitendes Gehirn in Gang zu halten. Da ist es kein Wunder, dass der Tourist eine recht humorfreie Gestalt ist.
Nur einmal hat der Tourist eine Ausnahme gemacht und etwas Komisches getan - allerdings unfreiwillig. Eines Tages fuhr der Tourist mit der U-Bahn eine lange Strecke durch Berlin und bestaunte den endlosen Strom der abgerissenen Elendsgestalten. Immer neue Bettler stiegen zu und verkauften verkrumpelte Straßenzeitungen oder stimmten grässliche Lieder zur Wandergitarre an. Schließlich betrat den Wagen ein zotteliger Student, der aber stolz am Griff vor sich her seine neueste technische Errungenschaft trug: eine Thermos-Tasse aus Edelstahl. Der Deckel war geöffnet, und vermutlich hatte der junge Zottel gerade einen letzten Schluck Kaffee aus der stählernen Tasse genommen. Ein Accessoire, das dem Touristen offenbar völlig unbekannt war. Vielleicht war er auch von der Flut der Bettler derart hingerissen, dass er sich nun endlich entschloss, ein Almosen zu geben. Also nahm der Tourist eine Münze und ließ sie in die Thermos-Tasse hineinklimpern. Nie aber sah man einen verblüffteren Menschen als den Studenten. So etwas gelingt nur dem Touristen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Die Wahrheit
Glückliches Jahr