die wahrheit: Das gefährlichste Meer der Welt

Ostdeutsche Piraten jagen Luxusliner: Jetzt gibt es auch in der Ostsee Seeräuber.

Internationale Sicherheitskräfte erobern ein von Piraten in der Ostsee gekapertes Handelsschiff zurück. Bild: ap

OSTSEEBAD BINZ taz Piraten haben ungefähr zehn Seemeilen vor der deutschen Ostseeküste ein Luxuskreuzfahrtschiff mit Touristen angegriffen. Die mutmaßlich aus Mecklenburg stammenden Seeräuber verfolgten die "Aida Blue" mit mehreren kleinen Booten und beschossen sie mit primitiven, offenbar selbst gebauten Waffen. Der Kapitän des Kreuzfahrtschiffes setzte einen Notruf ab und flüchtete aufs hohe Meer, teilte die Reederei mit. Nur knapp konnte das schwer beschädigte Schiff entkommen, einige Passagiere wurden leicht verletzt.

Dieser jüngste Vorfall zeigt es überdeutlich: Das Phänomen der Piraterie ist längst aus der Südsee bis in unsere Gewässer geschippert. Doch wundern sollte das kaum - war es doch beinahe abzusehen, so wie sich die Zustände in Teilen Ostdeutschlands in den vergangenen Jahren verschlechtert haben. Perspektivlosigkeit, Ausbeutung der Ressourcen und der Menschen, Hungersnöte, Gewalt und Analphabetismus greifen um sich. Auch ist die Ostsee vollkommen überfischt, sodass die Fischer praktisch keine andere Chance sehen, als kurzerhand zu Freibeutern umzuschulen - mit verheerenden Folgen für das einst so idyllische ostdeutsche Meer.

Die Ostsee zählt mittlerweile zu den gefährlichsten Gewässern der Welt. Erst Mitte Oktober hatten Piraten zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate ein Schiff mit Hilfsgütern der Vereinten Nationen gekapert, das Nahrung zu den hungernden Ostdeutschen bringen sollte. Die Beute wurde blitzschnell umgeladen und über die Wasserwege ins Hinterland gebracht. Die Mecklenburgische Seenplatte gilt als Hochburg und Rückzugsraum der Piraten. Auf dem Schwarzmarkt tauchen die dringend benötigten Waren dann zu völlig überhöhten Preisen wieder auf. So finanzieren die Seeräuber ihre anhaltende Aufrüstung. Die Lage in der Ostsee ist derart instabil, dass schon seit einiger Zeit Eskorten für Frachter und Kreuzfahrschiffe gefordert werden. Die Bundesregierung allerdings versteckt sich hinter juristischen Spitzfindigkeiten und will nicht eingreifen.

Dabei sind die Probleme hausgemacht: Die deutsche Politik hat die Zustände, solange es ging, ignoriert und spielt immer noch die Schärfe der Bedrohung herunter. Dennoch: Ostdeutschland scheint abgeschrieben, ist Niemandsland ohne Recht und Gesetz. Seit der Entmachtung der Einheitspartei und dem Zerfall der sozialistischen Diktatur vor mittlerweile fast zwei Jahrzehnten wird das Land von ständigen Konflikten und Unruhen geplagt. Ganze Regionen müssen ohne funktionierende Verwaltung und Behörden auskommen. Die wenigen offiziellen Regierungsorgane sind ausnahmslos korrupt, die Wirtschaft liegt am Boden. Der Alltag der Bevölkerung ist geprägt von ständiger Angst. Rivalisierenden Banden geraten immer wieder in gewaltsamen Auseinandersetzungen aneinander. Folter, Vergewaltigung und Mord sind an der Tagesordnung.

Jahrelang wurde das wahre Ausmaß der Missstände verheimlicht, Informationen wurden zurückgehalten. Auch in den westdeutschen Medien wurde nur sporadisch berichtet, um die Bevölkerung dort nicht zu verunsichern. Zu viele unangenehme Erinnerungen könnte das wachrufen - an die Zeiten kurz nach dem Niedergang der DDR, als Horden von wilden, hungrigen Zonenbewohnern die westlichen Bundesländer überfielen und plünderten. Bis heute soll Schutzgeld in erheblicher Höhe gezahlt worden sein, um die Sache unter Kontrolle zu halten.

Aber die Misere verschärfte sich von Tag zu Tag - und trieb immer neue Blüten. Die Piraten sind nur das jüngste Beispiel. Obwohl die Zahl ihrer Angriffe seit einem Jahr dramatisch steigt, sind der Bundeswehr immer noch die Hände gebunden. Die Soldaten dürfen die Piraten nur beobachten, aber nicht eingreifen. Und die instabile Sicherheitslage zieht immer mehr Ostsee-Anrainer in die Probleme hinein. Diese sind des Protests längst überdrüssig und wollen handeln. Vor allem Polen, das inzwischen unter schweren Lieferengpässen leidet, reagiert gereizt und droht bereits offen mit einem Eingreifen in deutschen Gewässern und zur Not auch auf deutschem Boden. Abhilfe soll schon bald eine Ostsee-Union für sicheren Seeverkehr unter polnischer Führung schaffen. Gerade wird eine spezielle, 1.000 Mann starke Eingreiftruppe ausgebildet; mehrere Schiffe werden für den schnellen See-Einsatz umgerüstet. Die Hilflosigkeit Deutschlands will niemand länger hinnehmen.

Und in der Tat: Politische Untätigkeit ist kaum mehr zu akzeptieren angesichts der menschenunwürdigen Verhältnisse im Osten. Hier kann nur ein massives und nachhaltiges Engagement helfen, den Bewohnern wieder eine Perspektive zu geben und damit den Nährboden für Kriminalität zu veröden. Das Unvermögen der Regierenden, Fehler einzusehen und zu korrigieren, hat dies lange genug verhindert. Es ist höchste Zeit für ein Umdenken, will man die Ausschreitungen von 1989/90 nicht wieder heraufbeschwören. Der Westen ist nicht so sicher, wie er sich fühlt - der Erfolg der Ostsee-Piraten beweist es.

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