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die wahrheitIn England schneits, und leise rieselt das Hirn

Damit konnte niemand rechnen: Es schneite in England. Im Februar! Das ganze Land war im "Schneechaos" versunken. Früher nannte man das ...

Damit konnte niemand rechnen: Es schneite in England. Im Februar! Das ganze Land war im "Schneechaos" versunken. Früher nannte man das Winter. Die Medien machten sich vor Aufregung ins Höschen. Es seien die schlimmsten Schneefälle seit 18 Jahren, jammerte die Daily Mail. Dazu kam eine furchtbare Kältewelle mit Temperaturen um den Gefrierpunkt. Glaubten die Engländer bislang, sie lebten auf einer Karibikinsel?

Sämtliche Zeitungen berichteten über das ungewöhnliche Naturschauspiel auf den Titelseiten, und im Innenteil gab es lange Fotostrecken mit Bildern von Schneemännern. In manchen Landesteilen wurden sogar Schneepflüge gesichtet. Ein Blatt gab seinen Lesern Ratschläge, wie man vermeiden könnte, auf die Schnauze zu fallen: Man müsse wie ein Pinguin laufen - die Knie locker lassen und die Arme ausstrecken, um das Gleichgewicht zu halten. Der Engländer, das watschelnde Volk. Noch besser sei es, sich wegen des Killerschnees gar nicht erst auf die Straße zu wagen.

Aus Sicherheitsgründen wurden 8.000 Schulen geschlossen, die Kinder könnten ja sonst im Schnee verloren gehen. Ein Viertel der arbeitenden Bevölkerung blieb ebenfalls zu Hause, weil die Eisenbahnen landesweit den Verkehr eingestellt hatten. Andere ließen ihre Autos im Stau mitten auf der Straße im Stich, um sich zu Fuß durchzuschlagen. Lediglich die Hotels machten einen Reibach: Sie vermieteten die Zimmer an gestrandete Pendler zum dreifachen Preis.

London hatte es besonders schlimm getroffen. In den Krankenhäusern mussten Operationen wegen Personalmangels abgeblasen werden, alle fünf Flughäfen wurden geschlossen, und sämtliche 700 Buslinien stellten den Verkehr ein. Das war nicht mal während der deutschen Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg geschehen. "Es bestand das Risiko, einen zwölf Tonnen schweren Bus auf den Schnee loszulassen und ihn in eine tödliche Waffe zu verwandeln", sagte Bürgermeister Boris Johnson.

Merkwürdigerweise fielen auch neun der elf U-Bahn-Linien aus. Schneit es in London auch unterirdisch? Bei dem tragikomischen Transportsystem, das bei keinem Wetter richtig funktioniert, wäre das nicht verwunderlich. Premierminister Gordon Brown sagte, er werde alles in seiner Macht Stehende tun, damit sich das Chaos nicht wiederholt. Er hat eine Untersuchung eingeleitet. Soll sie herausfinden, ob die weißen Flocken das Werk von al-Qaida sind?

Nur der Journalist Stuart Jeffries gewann der Situation eine positive Seite ab. Dabei schoss er allerdings übers Ziel hinaus. "Ein numinoses Glühen begrüßt einen, wenn man den Vorhang öffnet", fabulierte er im Guardian, "und obwohl es Montag ist, freut man sich darauf, zur Arbeit zu laufen und unterwegs mit fremden Menschen einen Schneemann zu bauen." Kreditkrise? Bankenpleite? "Na und", meint Jeffries. "Wir brauchten den Schnee, um uns an die Unschuld zu erinnern. Wir brauchten ihn, um uns daran zu erinnern, wer wir sind."

Nur die Kinder werden es nie erfahren. Wenn sie in der Öffentlichkeit Schneebälle werfen, so warnte die Polizei, werden sie wegen "antisozialem Verhalten" verhaftet.

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3 Kommentare

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  • C
    Christiane

    Man mag sich mokieren, Tatsache ist aber, dass es in den 24 Jahren, die ich jetzt hier lebe, vielleicht an insgesamt 5 Tagen in London Schnee gegeben hat, der liegengeblieben ist. Davon vielleicht 2 mal mehr als 3 oder 4 Zentimeterchen.

    Die jetzige Wetterlage mit wochenlangen regelmäßigen Nachtfrösten und immer wiederkehrenden Schneefällen (allerdings auch dies nicht in London selbst, dafür aber umso mehr im Umland)ist absolut ungewöhnlich, jedenfalls in den letzten 24 Jahren noch nie vorgekomen.

     

    Die deutsche Gründlichkeit und Risikofeindschaft würde sich vielleicht trotzdem gegen den Fall der Fälle wappnen, hier aber bereitet man sich gelassen auf den 'erschwerten Normalfall', nicht aber auf den Extremfall vor. Dem begegnet man, wenn er denn kommt, mit ebensolcher Gelassenheit und mit viel Galgenhumor - die Hysterie überläßt man gern den Journalisten, im In- wie im Ausland.

  • JB
    James Baaden

    Ja, die "Wahrheit"... Gut, unsere Medien hier in Gross-Britannien waren ausser sich, hysterisch - gewaltige arktische "Katastrophe", hiess es, "keine Busse" in London, verzweifelte alte Leute gleich vor dem Erfrieren "im Norden Englands", "Schulen geschlossen", "keine Zuege" usw. Und in der Tat, vielen Seiten von Bildern von ... Schnee. Aber Ihr Reporter soll nicht alles glauben, was er in der (britischen) Zeitung liest. Zum Hoehepunkt unserer nationalen Schneekatastrophe, also vor einer Woche (Montag 2 Februar) war ich selber "oben im Norden", in Northumberland, an der Grenze zu Schottland. Nachmittags war ich auf dem Lande, bei Hadrians Mauer. Es lag ein bisschen Schnee, die Landschaft war schoen und weiss. Von Newcastle aus musste ich dann zurueck nach London fahren. ES HIESS: keine Zuege, keine Busse, katastrophales Durcheinander. Aber: mit dem staedtischen Bus in Newcastle habe ich den Bahnhof erreicht. Ja, es schneite, aber ich habe den Bahnhof erreicht. Unterwegs stiegen viele ... Kinder - d.h. SCHULKinder - ein und aus. Anscheinend hatten sie ihre "geschlossenen" Schulen irgendwie doch waehrend des Tages besuchen koennen. Am Bahnhof sahe ich dann jede Menge ... Zuege! Sie fuhren ein, sie fuhren ab. Ich bin selber in einen von diesen "Zuegen" eingestiegen, und nach London gefahren. Es gab eine Verspaetung, aber sie war geringer als sonst oft der Fall sein kann (und viel geringer als die Verspaetungen, die ich in Deutschland immer erlebe). In London angekommen, war ich auch genau so ueberzeugt von der "Wahrheit" der Presseberichte wie Ihr Reporter, und daher meinte ich, es wuerde kein einziger von den (7000 oder 8000?) Bussen unterwegs sein: also bin ich mit der U-Bahn nach Hause gefahren. Sie schien uebrigens auch ganz in Ordnung zu sein. Als ich bei meiner Haltestelle ausgestiegen war, sah ich dann oben auf der Strasse - in der Tat, jede Menge Busse unterwegs auf den Strassen. Und ein bisschen Schnee auf dem Buergersteig.

  • L
    Londoner

    Zehn der elf U-bahn Linien fahren teilweise uebergrund, und waren deswegen teilweise geschlossen.

     

    Und von Boris Johnson halten wir sowieso nicht so viel.

     

    Der Rest stimmt aber - tatsaechlich laecherlich wie wir von 15cm Schnee erobert wurden.