die wahrheit: Schlussakkord unter Tränen
Neues aus der Wirtschaft: Jetzt hat die Pleitewelle die Schriftstellerei erreicht.
Dr. Würselen gibt sich kämpferisch. "Der Literaturstandort Deutschland darf nicht untergehen", ruft er dem bereits gut gefüllten Publikum zu, während Gattin Helma trotz beachtlichen Leibesumfangs überraschend agil von Anrichte zu Beistelltischchen tänzelt und die andachtsvoll in Fauteuils versunkenen Adepten des in diesem Kreis hochverehrten Literaten Dr. Dieter Würselen zum reichlichen Nachschlag von Schmalzgebackenem und Graubrotschnittchen auffordert.
Alle sind erschienen, die Rang und Namen in der Dr.-Dieter-Würselen-Gesellschaft haben. Die meisten von ihnen tragen diesen Familiennamen ohnehin selbst. Andere Besucher hat schnödes Interesse am literarischen oder am zünftigen Backwerk hierhergelitten, wiederum andere, namentlich die Abgesandten der Sanitärfirma Wiedehopf, stehen in geschäftlichem Kontakt zum Ausnahmedichter Würselen: Sie haben im Austausch gegen einige profane Reparaturarbeiten Anteile an dessen jüngstem, unveröffentlichtem Werk erwerben dürfen.
"Der neue Würselen muss erscheinen!", agitiert Dr. Dieter Würselen die mümmelnde Menge zum furiosen Abschluss der Kundgebung und reckt winkend die Arme in die Höhe, bis der Applaus verebbt ist. Tränen stehen in den Augen des literarischen Solitärs, als die Schriftführerin der Würselen-Gesellschaft, die umtriebige Einzelhandelskauffrau Sabine Niepen-Würselen, sich erhebt und den Geistesmenschen in einer Geste spontaner Zuneigung umarmt.
Würselen galt einst als bedeutendster Vertreter des Neuen Westfälischen Romans, jenes literarischen Genres extremster Verknappung, dessen bahnbrechendstes Werk "Das Schnapsglas" zugleich Anfang, Scheitelpunkt und Schlussakkord dieser oftmals vom Feuilleton und von der Literaturwissenschaft unterschätzten Bewegung darstellt. Beseelt von formaler Kompromisslosigkeit lotet Würselen auf dreieinhalb Seiten das Gefühlsleben eines halbleeren Schnapsglases aus, ohne freilich mit dessen Dinglichkeit zu brechen.
Später wandte sich der Autor, von einem Fußleiden und schmerzhaften Marienerscheinungen auf seinem Nachttischchen gebeutelt, dem Rheinischen Mystizismus zu, einer umstrittenen Spielart des Realismo mágico, dessen pompöse Geschwätzigkeit in provozierendem Kontrast zur tiefgründigen Simplizität des Stoffes zu stehen pflegt. Nach Erscheinen des dickleibigen Briefromans "Bekenntnisse eines Nachttischchens", der in weiten Teilen von Würselens erster Ehefrau als Schlüsselroman missdeutet wurde, sah sich der wenigstens nüchtern als unpolitisch geltende Schriftsteller in seiner westfälischen Heimat zunehmenden Anfeindungen ausgesetzt, bis er 1982 ins Rheinland emigrierte, wo er sich schnell als Verfasser zahlreicher psychedelischer Karnevalslieder einen Namen machte, wenn auch keinen guten. Dennoch steht sein Libretto für den subtil antiklerikalen Gassenhauer "Pfründe in der Not" noch heute als geheimnisumwitterter Monolith im Sumpf geistloser Stimmungsmusik.
Im vergangenen Jahr hatte Würselen mit dem Bändchen "Die Buchse der Pandora" auf den Zug zeitgeistiger Bekenntnisliteratur aufzuspringen versucht, doch fand seine Hommage an altersbedingte Inkontinenz außerhalb eines aufgeschlossenen Fachpublikums kein Gehör. Dennoch sollte diese ungeliebte Auftragsarbeit, zumindest nach einer Umarbeitung zum Sachbuch, sein bisher größter kommerzieller Erfolg werden.
Heute nun wendet sich Dr. Dieter Würselen mit einem aufsehenerregenden Appell an die Öffentlichkeit. "Ich habe mich total verspekuliert", gibt er unter Tränen zu, und auch aus der cremefarbenen Sitzlandschaft sind solidarische Schluchzer zu hören. Mit der Übernahme einer generationenübergreifenden Kaufmannstrilogie, die in einer Trinkhalle in Essen-Steele angesiedelt werden und dem vom Konkurs bedrohten Stadtteil internationales Renommee verschaffen sollte, hatte der ehrgeizige Würselen endlich in die Klasse feuilletonnotierter Autoren vorstoßen wollen, doch erwies sich das vermeintliche Interesse am großen Gesellschaftsroman als reine Spekulationsblase, zumal bekannt wurde, dass die Rechte an den drei übergewichtigen Brüdern, die Würselen für kleines Geld als Protagonisten angeheuert hatte, längst bei einem Privatsender lagen.
Nun droht dem verdienstvollen Schriftsteller nicht nur die Insolvenz, sondern auch die Pfändung des Romanfragments durch die Sanitärfirma Wiedehopf, die es nach eigenen Angaben zerschlagen und in Teilen zu einer Festschrift zum 75. Firmenjubiläum umarbeiten lassen möchte.
Würselen dagegen beschreibt seinen Roman als "im Kern gesund" sowie "wichtig für die Region" und fordert eine "Bürgschaft für die Zukunft" von der Bundesregierung. Schon mit einer garantierten Abnahme von nur 12.000 Exemplaren könnte Kurzarbeit seinerseits vermieden und gar die Produktion einer Rahmenhandlung angekurbelt werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“