die wahrheit: Drei Kilo Eiter
Geschichten zum Winden. Operation am offenen Ohr. Dringender Warnhinweis: Personen mit einer niedrigen Ekeltoleranz, einem schwachen Magen oder etwa Halswirbelschäden...
...sollten wegen der hohen Windungsgefahr von der Lektüre dieses Wahrheit-Textes absehen.
"Oh mein Gott, das ist ja riesig!", schreit der Ohrenarzt auf, schlägt vor Entsetzen die Hände über dem Kopf zusammen und dreht sich in einer Übersprungshandlung dreimal um sich selbst, bevor er wieder den Blick auf beziehungsweise hinter mein rechtes Ohr wagt.
Ja, zugegeben, dieses tischtennisballgroße Geschwür, das seit einigen Jahren in meinem Ohrläppchen wächst und gedeiht, ist nicht besonders hübsch anzusehen, wenn man mir hinter das Ohr schaut. Doch weil mir selten Leute hinter das Ohr schauen, habe ich es bisher ignoriert. Aber in letzter Zeit bahnte es sich mehr und mehr den Weg nach vorne, so dass man es schon sehen konnte, wenn man mir ins Gesicht blickte, und das störte mich dann doch.
"Hilfe, es ist kurz vor dem Platzen!", ruft nun wieder der Arzt, "wenn das passiert, dann sind wir alle verloren!" Was genau "es" denn nun eigentlich ist, frage ich schüchtern, und der Arzt sieht mich mit einer Mischung aus Hass und Verachtung im Blick an. Dann zischt er: "Sie haben sich vor vielen Jahren mal ein Ohrloch stechen lassen, richtig?"
Beschämt senke ich den Blick, denn der Arzt hat recht. "Dabei wurde eine Talgdrüse verletzt", schimpft nun der Arzt voller Wut über so viel Dummheit. "Die Drüse, sie produziert Tag für Tag, jahrein, jahraus Talg, Talg und immer wieder Talg! Aber der kann nicht abfließen und sammelt sich nun seit Jahrzehnten in ihrem Ohrläppchen."
Der Arzt schüttelte sich voller Abscheu und ruft dann: "Talg und Fett, ihr ganzes Ohrläppchen ist voller Talg und Fett! Und wenn sich das entzündet, dann schmilzt das alles zu gelbem, stinkendem Eiter zusammen, und dann bricht alles auf, und das tut weh, das tut schrecklich weh!" Ich frage den Arzt unterwürfig, ob er mir helfen kann. "Das müssen wir operieren, das muss raus!", sagt er und klärt mich gleich über die Risiken auf. Es könne durchaus auch sein, dass er mit den Betäubungsspritzen meine Gesichtsmuskeln trifft und ich eine Gesichtslähmung bekomme. Das allerdings sei ihm noch nie passiert.
Als ich mir an der Rezeption einen Termin für die Operation geben lasse und erkläre, was da passieren soll, wird die Sprechstundenhilfe ganz blass und sagt verstört: "Ich glaube nicht, dass wir hier so was schon mal gemacht haben." Ich aber flüstere nur: "Der Doktor hat mir gesagt, dass er damit schon große Erfolge erzielt hat." - "Na, wenn der Doktor das sagt, dann wollen wir das dem Doktor mal glauben", gibt sie schulterzuckend zurück und mir einen Termin.
"Das wird jetzt ein bisschen unangenehm", sagt der Arzt. "Sprrrrruuuiiiiiiiitzsch", höre ich und glaube, dass mein gesamter Schädel explodiert - die erste Spritze hat gesessen. Und gleich noch mal zischt es: "Sprrrrruuuiiiiiiiitzsch". Aua! Während ich warte, dass die Betäubung wirkt, vernehme ich, wie der Doktor der Krankenschwester zuraunt: "Ich muss Sie warnen, das wird jetzt etwas ekelig und blutig."
Und schon geht es los. Links steht die Schwester, die mein Ohr nach vorne zerrt, rechts der Arzt mit gezücktem Skalpell. Dann höre ich ein seltsames Geräusch: "Rrrrrtsch …" Aha, er sägt das Ohrläppchen und die zum Bersten mit Talg und Fett gefüllte und verkapselte Kugel auf.
Etwas Warmes läuft mir den Hals entlang, und eine Art matschiger Klumpen fällt mir auf die Schulter. Ich habe die Augen zu, höre aber die Krankenschwester seufzen. Ich denke noch: "Na ja, in deren Situation wäre ich jetzt auch nicht gern", als ich sie abermals seufzen höre, etwas alarmierender als zuvor. Ich schlage die Augen auf und sehe sie an. Sie ist käsegelb im Gesicht und schwankt. Ich frage mich, ob sie das durchstehen wird, da stammelt sie mit letzter Kraft: "Kann ich nicht vielleicht doch lieber Marianne holen?" Und bricht ohnmächtig über mir zusammen. Ich kann sie gerade noch auffangen, sonst hätte sie sich womöglich verletzt.
Der arme Arzt weiß ganz kurz nicht, ob er sich besser um mich oder um die Schwester kümmern soll, aber weil ich womöglich etwas unangemessen amüsiert gucke, trägt er zunächst die Krankenschwester hinaus. "Ich kann mein Ohr auch selbst festhalten!", rufe ich ihm in einem Anfall von Selbstüberschätzung nach, bevor ich merke, dass es mir eigentlich auch nicht so gut geht.
Die neue Arzthelferin, die der jetzt sichtlich angespannter wirkende Ohrenarzt mitbringt, ist etwas cooler. Sie guckt einfach nicht hin, während er mit einem gefühlten Eiskugelschaber und dem Geräusch "Grummmpf" geschätzte drei Kilo ekeliges Zeug aus meinem Ohrläppchen gräbt und an meiner Schulter abstreift.
Als alles vorbei ist, mache ich den großen Fehler aller Operierten, die keine Vollnarkose hatten: Ich schaue mir den Arbeitsplatz des Operateurs an, der sich soeben die rotgefärbten Gummihandschuhe abstreift: Dort liegen Berge von blutigen Wattebäuschen, Tücher mit gelblichen Klumpen, Instrumente und Geräte. Durch einen Türspalt sehe ich noch, wie sich vier Krankenschwestern um die Schwester geschart haben, die vorher in Ohnmacht gefallen war. Sie tut mir so leid, ich wollte das nicht.
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