die wahrheit: Das beste zum Schluss
"… und das liegt nur daran", sagt Beate und schaufelt sich noch eine Ladung Gnocchi auf, "weil ich immer so blöd war und vor lauter Höflichkeit den Mund gehalten habe."...
...Gisela wirft einen Blick in die leere Schüssel. "Den Mund gehalten, mhm", murmelt sie, die Zähne zusammengebissen, leises Knacken im Unterkiefer. "Aber mit mir nicht mehr!", plappert Beate unbeirrt weiter: "Ich stecke nicht mehr zurück. Ich weiß, was ich will und was mir zusteht!" Im Moment scheint sie das letzte Putenröllchen in Gorgonzola-Sahne zu wollen, denn auch das wuppt sie auf ihren Teller. Sie schmatzt so laut, dass sie Giselas leises Fluchen nicht hört.
Dabei hatte es so nett angefangen. Mit Tomatensuppe, mit Ruccola, mit Wein. Doch dann kam das Brot auf den Tisch. "Ich will den Knust haben", sagte Beate und sah uns angriffslustig an. Ohne weitere Vorwarnung grapschte sie sich das knusprige Brotende von Giselas Tellerrand und schob es zwischen ihre tomatenroten Lippen.
Okay, jeder das Ihre. Kein Problem. Nur dass sie dann auch noch das zarteste Putenröllchen einforderte, ohne zu fragen einen Großteil der Soße auf ihrem Teller verteilte und verlangte, dass ich statt der zweiten Flasche Weißwein meinen für besondere Anlässe gehegten Veuve Clicquot öffnen sollte, das war dann doch zu viel.
"Ich mache jetzt eine Gruppe", hat Beate schließlich sahneverschmiert und vollmundig verkündet: "Wecke deine innere Amazone!" Gisela und ich stocherten in unseren soßenlosen Gnocchi herum. "Konventionen hinter sich lassen. Antrainierte Grenzen überwinden. Zurückfinden zu den Kraftquellen der eigenen Mitte."
Gorgonzola klebte an Beates Gabel. "Grenzüberschreitung", nickte Gisela, "soso!" Beate ließ sich nicht aufhalten: "Ich werde mir nicht mehr das Beste bis zum Schluss aufheben. Ich will es gleich." Ihre Gabel stieß pfeilschnell ins Putenröllchen: "Alles!" Gisela schwieg düster.
"Überraschung!", rufe ich in die Runde, als alle Teller leer sind. "Wie? Nachtisch?", stutzt Beate. "Da steht doch nichts mehr." Sie deutet auf die leere Anrichte. "Da nicht - aber hier." Ich öffne den Kühlschrank und stelle die Schüssel mit Giselas Mousse au Chocolat auf den Tisch. Ein Napf dunkel-süße Verlockung.
"Mousse au Chocolat von Gisela!?", quietscht Beate. "O nein, wie unfair. Warum habt ihr das nicht vorher gesagt? Dann hätte ich doch nicht so viel gegessen." Sie ist den Tränen nahe, was ich sehr gut verstehen kann, denn Giselas Mousse ist die beste überhaupt.
"Du hast dir doch eben schon genommen, was du wolltest. Hast du jedenfalls gesagt", grinst Gisela. "Aber die Mousse …", jammert Beate. "Ich kann einfach nicht mehr!" Ihr Blick ist verzweifelt. "Schade", säuselt Gisela. "Doch vielleicht findest du dafür ja auch die passende Gruppe: Wecke deine innere Zynikerin."
Sie lächelt scheinheilig. "Zuschlagen - aber richtig." Genüsslich schiebt sie sich einen Löffel Mousse in den Mund. "Ab und an gibt es das Beste nämlich wirklich am Schluss." Und für einen wunderbaren Augenblick herrscht Stille in meiner Küche.
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