die wahrheit: Pröppelmann, erbarme dich!
Die Wetteronkel hatten einen kolossalen Sturm vorausgesagt, und Rob und ich saßen hinter den Fenstern des Cafés am Goetheplatz...
... und sahen den angsterfüllten Maßnahmen zu, mit denen die Stadt sich darauf vorbereitete. "Süßwassermatrosen!", spottete Rob: "Die s-pinnen doch, diese Binnenlandbewohner! Die wissen überhaupt nicht, wie sich n ans-tändiger S-turm anfühlt!" Wie immer, wenn er seine norddeutsche Herkunft besonders hervorheben wollte, stolperte er hart über alle "Sp"s und "St"s. Recht aber hatte er, und da auch ich von der Küste stamme, pflichtete ich ihm mit einem flapsigen "Dat kanns wohl seggen, min Söten!" bei.
Draußen ließen die letzten Ladenbesitzer die Rollläden herunter. Die Schulkinder waren schon vor einer Stunde nach Hause geschickt worden, und im Radio riet man jedem, der sein Erdendasein nicht leichtfertig auf Spiel setzen wolle, in den nächsten vier bis fünf Stunden nicht ins Freie zu gehen. Das alles machte den Eindruck, als ob uns mindestens der Weltuntergang bevorstehen würde - die Stärke des Windes aber, der die Äste der Bäume auf dem Goetheplatz nur mäßig zauste, wollte mit dem apokalyptischen Szenario nicht zusammenpassen.
"Pah!", brummelte Rob: "Bei uns in Nordfriesland würde dieses Lüftchen allenfalls als leichte Brise gelten!" - "Genauso wie bei uns!", sagte ich: "Solange sich nicht die Lampenmasten wie die Schilfrohre biegen und ab und zu ein paar Satellitenschüsseln von den Dächern segeln, wird überhaupt nicht von Wind gesprochen!" - "Richtig! Und für einen akkuraten S-turm brauchts mindestens ein Dutzend abgedeckte Häuser, ein paar entwurzelte Bäume, und - nicht zu vergessen - einen Rauhaardackel oder Yorkshireterrier, der von einer Bö erfasst und auf ein Turnhallendach gepustet wird!" - "Jawoll!", sagte ich. Draußen flatterte die Titelseite einer Boulevardzeitung mit der Schlagzeile "Pröppelmann, erbarme dich!" vorbei, denn neuerdings konnte man die Namensrechte an Hoch- und Tiefdruckgebieten kaufen, und so hatte ein Lakritzbonbonmillionär die Gelegenheit genutzt und das Sturmtief auf den Namen seines früheren, verhassten Lateinlehrers getauft.
Es war jetzt niemand mehr auf der Straße. "Komm", sagte Rob, "ich hab noch ne Flasche Doppelkorn aus Allhusens Schwarzbrennerei zu Hause. Wir gehen zu mir und nehmen ein paar Lüttje Lagen auf diesen s-pektakulären S-turm." Ich sagte: "Prima!", und verließ mit ihm das Café. Kaum aber waren wir in die nächste Querstraße abgebogen, hörte ich ein metallisches Kreischen über uns. Ich blickte nach oben, schubste Rob mit einem entsetzten Aufschrei zur Seite, und Sekundenbruchteile später krachte dort, wo wir eben noch gestanden hatten, eine Satellitenschüssel auf den Bürgersteig. "D-d-das gibts doch nicht!", stammelte Rob, und dann eilten wir - unentwegt furchtsam nach oben blickend - zu ihm nach Hause, tranken Doppelkorn in großen Schlucken, hörten, wie draußen ein Baum knirschend umsank, und warteten darauf, dass endlich der erste Rauhaardackel am Fenster vorbeischweben würde.
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