die wahrheit: Silvester im Rüebliland
"Lass mal Papi ran", meinte der Große sanft und nahm seinem bleichsüchtigen Büfettnachbarn formvollendet das trotz Stöhnens und Zerrens immer noch verschlossene Olivenglas aus der Hand...
"Lass mal Papi ran", meinte der Große sanft und nahm seinem bleichsüchtigen Büfettnachbarn formvollendet das trotz Stöhnens und Zerrens immer noch verschlossene Olivenglas aus der Hand. Samson schnickte den Deckel mühelos auf. Um den Schmalhans - ich tippte auf Uhrmacher - noch ein bisschen zu demütigen, mischte ich mich ein. "Er hatte ihn aber schon gut gelockert."
Ich mag Silvesterpartys in fremden Städten, wo man nur die Gastgeber kennt. Man lernt immer Menschen mit besonderen Begabungen und Erfahrungen kennen. Ein Blick auf die gewaltigen Bergwerkerhände meines Gegenübers sagte mir: "Du bist ein Arbeiter der Faust." - "Könnte man so sagen." - "Panzermechaniker?", tippte ich. Er schüttelte den Kopf. "Chirurg."
Ulrich war Oberarzt in einem Kreiskrankenhaus im nördlichen Niedersachsen, und bei der Behandlung des dasigen Menschenschlags kam ihm seine Statur sicher sehr zupass. Als ich ihn aufforderte, ein paar Schwänke aus seiner Praxis zu erzählen, berichtete er von den üblichen kinderkopfgroßen Gebärmutterzisten, Schrumpflebern, die man mit der Lupe habe suchen müssen, und dreckigen Amputationen. Aber so richtig aufgeräumt wurde er erst, als er von seiner Zeit als Assistenzarzt in der Schweiz berichtete. "In einem Tal im Aargau, im Rüebliland."
Seine Krankenstation lag ziemlich "abgeschissen", das nächste richtige Krankenhaus drei Stunden entfernt, wenn die Pässe befahrbar waren. Oft waren sie es nicht. "Harte Verhältnisse, harte Menschen", schwärmte er. "Da habe ich das Handwerk von der Pike auf gelernt. Wir waren nur zu zweit, und der Chefarzt soff, ließ sich manchmal bis Mittwoch gar nicht sehen. Da musste ich alles allein machen." Klar, da ging auch einiges schief. Wenn die erste Naht nicht hielt, hat er es bei der zweiten eben besser gemacht. "Aber die Menschen waren so dankbar."
Diese herrliche Zeit ging dann leider jäh zu Ende, weil Ulrichs Mentor "in seinem Tran" versäumt hatte, rechtzeitig eine Verlängerung der Green Card zu beantragen. "Du musst nämlich einen einheimischen Bürgen finden, der den Behörden gegenüber bezeugt, dass deine Arbeit zurzeit nicht von einem Schweizer in gleicher Qualität ausgeübt werden kann." Dieses Formschreiben hatte sein Chefarzt schlicht zu spät eingetütet. Deshalb klingelten Ulrich am Silvestermorgen drei Milizionäre im vollen Wichs aus dem Bett. Nach der Feststellung der Personalien rollte der vordere seine Proklamation aus, während die beiden Hinterleute finster dreinblickten und zur Bekräftigung ihres Ansinnens die Flinten durchluden. "Ich war jetzt Staatsfeind Nr. 1 und hatte noch einen halben Tag Zeit, mein Ränzel zu schnüren und die Schweiz zu verlassen." Das tat er dann auch. Und als er sich bei dem Grenzbeamten, wie ihm das Trio empfohlen hatte, ordnungsgemäß abmelden wollte, kam der ihm drohend zuvor: "Wir haben schon auf sie gewartet."
Ulrich schüttelte auch nach all den Jahren indigniert den Kopf. "Da hast du die Schweiz in einer Nuss, Prost Neujahr!"
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