die wahrheit: Happy Diogenes
"Stop! Stehen bleiben! Sofort!", ruft Raimund mir zu, als wir uns auf dem Goetheplatz begegnen …
… Ich weiß nicht, was er von mir will, doch zum Nachfragen fehlt mir die Zeit, da ich meinen Vermieter zum Abendessen eingeladen habe, um ihn wegen gewisser Nachlässigkeiten bei der Mietzahlung zu beschwichtigen, mir aber nur noch knapp drei Stunden bleiben, um meine Einkäufe nach Hause zu schleppen und einen hoffentlich famosen Coq au vin auf Schmorgemüse zu fabrizieren.
Insofern erwidere ich "Ja, ja …", und versuche weiterzueilen - doch Raimund kann sehr hartnäckig sein und hält mich fest. "Wirklich", sagt er, "du solltest auf die Bremse treten!" Ich verdrehe die Augen und raunze: "Raimund, ich habe absolut keine Zeit, um …" "Genau das ist das Problem!", unterbricht er mich: "Du musst dir wieder Zeit schaffen!" "Zeit schaffen? Indem ich sie beim Plaudern mit dir vertrödele?" "Exakt!", sagt er: "Komm, wir gehen ins Café Gum, und ich erklärs dir." "Raimund …", hebe ich nochmals an, da hat er mir eine der Einkaufstüten entwunden und flitzt flink wie ein gnomenhafter Sprintweltmeister in Richtung Gum davon.
Ich hole ihn erst wieder ein, als er bereits an einem der Fenstertische sitzt. "Mann, Raimund!", zische ich: "Willst du dafür sorgen, dass ich aus meiner Wohnung fliege und in der Jugendherberge Quartier beziehen muss?" "Besser in der Jugendherberge schlafen als immerzu wie ein Hamster im Laufrad rumrennen", sagt Raimund: "Denk an Diogenes: Der hat in einer Tonne gewohnt und sich vom großen Alexander nichts weiter gewünscht, als dass er ihm aus der Sonne gehe." "Diogenes war auch plemplem. Außerdem hat er im muckeligen Griechenland gelebt und brauchte sich vor einer knackig frostigen mitteleuropäischen Februarnacht nicht zu fürchten." "Wir müssen uns Diogenes als einen glücklichen Menschen vorstellen!" "Sisyphos." "Sisyphos? Ich denke, das war der Steineschubser?" "Ganz recht. Camus hat das mit dem glücklichen Menschen über Sisyphos geschrieben - nicht über Diogenes." "Na und?", sagt Raimund: "Er hätte es aber genauso gut über Diogenes sagen können!"
In diesem Augenblick fällt mir auf, dass etwas fehlt. "Wo ist überhaupt die Tüte?", frage ich. "Hier", sagt Raimund, greift indessen ins Leere und stutzt: "Nanu, ich hatte sie doch …" "Willst du mir etwa sagen, dass du sie dir hast klauen lassen?!", rufe ich. "Blödsinn", sagt er, "es klaut doch niemand eine Einkaufstasche." "Wenn ein kolossaler Biogockel drin ist, vielleicht doch!" "Quatsch!", sagt Raimund - die Tüte aber findet sich auch nach längerer Suche nicht, und so bleibt mir nichts anderes übrig, als mit brennendem Hut noch einmal in den Supermarkt zu jachtern, nur um an der Kasse festzustellen, dass weder meine restliche Barschaft noch der bestürzende Minusbestand auf meinem Konto dazu ausreichen, einen zweiten Gockel zu kaufen, weshalb ich meine restlichen Cents eigentlich nur noch dazu nutzen kann, in der Jugendherberge anzurufen und mir ab dem nächsten Ersten dort ein Bett zu reservieren.
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