die wahrheit: Abi Sajaf - Jetzt Hamas
Abiturzeit: Abertausenden Abimottos fehlt es meistens an Drive.
Jede Zeit hat ihre Sprüche. Was der Zauberspruch in der heidnisch-germanischen Frühzeit, der Singspruch im Mittelalter, der Funkspruch im ersten Weltkrieg und der Spontispruch in den Siebzigerjahren, ist heute eben das Abimotto. "Es ist eigentlich überall üblich, dass sich ein Abijahrgang ein Motto sucht", so www.abizeitung.net. Die Anfänge dieser Spruchdichtung liegen im Dunkeln: Sporadisch in den Siebzigerjahren auftauchend, dann mehr und mehr in den Achtzigern, verbreitete sich das Abimotto in den Neunzigerjahren so rasant, dass es heute fast obligatorisch ist.
Für die jungen Leute eine einmalige Gelegenheit: Was ihnen auf der Seele brennt, in die Welt zu posaunen, ein einziges Mal wirklich gehört, gelesen zu werden - auf T-Shirts, Heckschutzscheiben, Aufklebern oder Autoflaggen. Da ist einiges zu erwarten: nicht weniger als die Verdichtung von Träumen, Sehnsüchten, Ängsten einer ganzen Generation. Doch in der Praxis klingt das meistens so: "hABIwai - reif für die Insel", "Abikini! Knapp, aber passt schon", "ABIgasmus - 13 Jahre warten bis zum Höhepunkt", "Abi habi dude da?", "BacABI 09 - 13 Jahre RUM", "ABIsutra - jetzt gehen wir auf Stellungssuche", "ABI 007 - Mit der Lizenz zur Intelligenz", und immer so fort.
Kurz: Vom Spontispruch zum Abispruch ist es weit. Würde ein Abi-68er seinem 18-jährigen Neffen Ratschläge geben, klänge das vermutlich so: "Mensch, wie wärs denn mit: Abi 10 - nackte Gewalt gegen festes Gehalt!" -"Hm", antwortet der Neffe. "Oder: Macht aus dem Staat - Gurkensalat!" - "Hm. Ich dachte eher an: KohlrABI - wir machen uns vom Acker." - "Warum?" - "Wegen des Wortspiels. Die Abi-Buchstaben müssen mit rein." -"Dann wenigstens was mit ZeitArBeIt! Oder SumsilAreBIloen, rückwärts gelesen. Oder was kontra AgrarsuBventIonen, ABschIebung, irgendwas rABIkales, oder?", der Alte kratzt sich am Kopf: "Ich habs! Lieber gute Abifeten als US-Atomraketen! Nein, warte? Niedriglohn und ZeitArBeIt, dafür hamm wir keine Zeit!", skandiert er. "Lass mal, ist lieb gemeint", sagt der Neffe, hebt die Hand und geht.
Das ist traurig, sind die jungen Leutchen doch im optimalen Protestalter. Wie schön wäre es, horchten sie einmal tief in sich hinein: Schlummert da nicht irgendeine Lebenseinstellung? Wenn nicht: Nicht den Kopf in den Sand stecken! Wer kein eigenes Lebensgefühl hat, darf sich eins ausborgen, darf anderen Generationen über die Schulter schauen, in der Mottokiste der Geschichte stöbern. Was hätte das 20. Jahrhundert nicht alles an Abimottos hervorgebracht, hätte es sie schon gegeben: "Abi 1918 - Eure Ordnung ist auf Sand gebaut", "Notabi 44 - Diese Welt ist nicht mehr unsere Welt", "Abi 79 - Chaos, Punk und Anarchy für ein geiles Germany", und so weiter. Vielleicht aber eher doch: "Abi 1918 - Freie Bahn dem Tüchtigen", "Abi 44 - Unsere Fahne flattert uns voran", "Abi 79 - Nicht immer, aber immer öfter". Denn der Knackpunkt ist, dass ein Motto vom ganzen Abiturjahrgang gewählt werden, sprich konsensfähig sein muss. Das ist die alte Tragik. Das ist Demokratie.
Weshalb Eigenbrötler und frühreife Zyniker in Internetforen auf ihren Vorschlägen sitzen bleiben: "Abi Sajaf - Jetzt Hamas", "ABIquaida - Das war ne Bombenzeit", "ABIghanistan - die Zwangsherrschaft ist zu Ende". "Tja, Terror ist halt saulustig", postet im Internet ein Abi09-er. Und Lautwiederholungen sind schön, wie "Ehrfurcht sonst Erfurt" zeigt. Nur selten setzt sich Zündstoff durch, wozu bestenfalls "PunjABI - 13 Jahre Kinderarbeit", "Abi macht frei" oder "ABI 05 - Lutsch meinen Schavanz!" zählen mag.
Wenn nun das Spruchgut der Väter und Großväter zur Konsensfindung nicht immer taugt, was dann? An wem können sich die jungen Leute orientieren? Welche Vorbilder, Leitsterne gibt es? Da wäre zum Beispiel die Bibel. "Abi 10 - Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen" klänge nicht schlecht, ein Kirchenlied bringt melancholischen Tiefgang rein. Oder die Bundeswehr. Dort haben Schlachtrufe Tradition, um das Wir-Gefühl der Truppe stärken: "Abi 010 - Dran! Drauf! Drüber!", oder "Nachschub - rollt", mit Blick auf die drohende Vergreisung wahlweise auch: "Nachschub - fehlt". Besonders zu empfehlen auch das Spruchgut der Parteien. Die bieten immerhin klare Statements. Und Gemeinschaftsgeist auch.
"Abi 10 - Mehr Tempo für Deutschland, mit freundlicher Unterstützung der FDP" oder "Wir schaffen das moderne Deutschland" oder "Es geht um Deutschland" oder schlicht und ergreifend: "Abi 10 - Ich will Deutschland dienen!" Mit einem knalligen Konterfei von Merkel auf dem T-Shirt. Das dürfte rocken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Wissenschaftlerin über Ossis und Wessis
„Im Osten gibt es falsche Erwartungen an die Demokratie“
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus