die wahrheit: Mehr Rücktritte, bitte!
Amtsverzicht leicht gemacht: Immer mehr Spitzenpolitiker geben auf.
Nun, keine Krankenschwester, kein Busfahrer, kein Lehrer, kein Polizist – eigentlich niemand kann sich leisten, von heute auf morgen von seiner Arbeit zurückzutreten, von jetzt auf gleich aufzuhören. Unvorstellbar, dass ein Chirurg mitten in der OP das Skalpell und den Satz fallen lässt: "Sorry, Leute, aber ich glaube, ich brauch wieder mehr Zeit fürs Angeln …" Auch kein Pilot entsteigt in achttausend Metern Flughöhe seinem Cockpit, um den Passagieren zu verkünden, dass er gerade die Lust am Fliegen verloren habe. Nicht einmal im Bordell ist Schluss vorm Schuss.
Allein bei Politikern ist es offenbar ein Zeichen der Ehrbarkeit und gereiften Sittlichkeit, wenn sie ihren Job mittendrin aufgeben. Die Medien sprechen dann von Amtsmüdigkeit, von der Erosion der Macht, aber das sind öde Phrasen und Leitartikel-Nebelkerzen. Sechs Abschiede von Ministerpräsidenten sind zunächst mal ein Zeichen dafür, dass es geht. Niemand braucht sie, auch sie selber brauchen sich nicht. Wer zurücktritt, hält sich selbst für verzichtbar.
Und das nicht einmal zu Unrecht. Wenn ein Christian Wulff seinen Spitzenjob in Niedersachsen von heute auf morgen aufgeben kann, um einen neuen in Berlin anzutreten, dann kann seine Arbeit dort so wichtig nicht gewesen sein. Wenn Roland Koch in der größten Finanzkrise mal eben verkündet, in irgendeine Wirtschaft zu wechseln, zeugt das nicht gerade davon, dass man ihn bräuchte. Und wenn Ole von Beust am Sonntag mit scheinheiligem Augenaufschlag erklärt, dass die Zeit gekommen sei, sich ins Privatleben zurückzuziehen – nach reiflicher Überlegung selbstverständlich und, wie er selbstgefällig feststellt, "ohne Groll" –, dann ist niemand überrascht.
Ein Imbissbudenverkäufer, der von seinem Tresen zurücktritt, macht keine Pressekonferenz. Ole von Beust schon, und er hat nicht mal eine Bratwurst in der Hand. Und selbst wenn er eine in der Hand gehabt hätte … – aber nein, das wollen wir wirklich nicht wissen.
Das alles ist jedenfalls bigott und lehrreich. Die Kapitäne verlassen das sinkende Schiff. Die Moral dieser Führungskräfte ist keine Moral. Politische Spitzenämter, so die Botschaft dieser Tage, sind ohne weiteres austauschbar und werden selbst von ihren Inhabern für irrelevant gehalten. Wozu man sie überhaupt wählen sollte, wenn sie lange vor Ablauf der Wahlperiode sich anderweitig amüsieren gehen, ist die Frage.
Es handelt sich um Beamte mit den höchsten Besoldungsstufen und offenbar dem geringsten Respekt für diejenigen, denen sie ihr Amt und ihre Pensionsansprüche, die ihnen zustehen, verdanken. Eine Welt ohne sie ist vielleicht keine bessere Welt, aber immerhin eine ohne sie. Wünschenswert wäre nur, wenn es noch weitere Rücktritte gäbe. Politiker, Bischöfe, Bischöfinnen und sogar DFB-Präsidenten, die sich selbst abservieren – das macht Lust auf mehr.
Gern wird von ihrer "Vorbildfunktion" gesprochen. Was sie bedeutet, abgesehen von gewissen Manieren und Manierlichkeiten, ist weitgehend unspezifiziert. Sind wir nicht auch irgendwie müde? Sie? Ich? Wir alle? Urlaubsreif? Reicht es nicht? Wozu weitermachen? Sollten wir nicht mal etwas ausspannen? Ja, sollten wir nicht alle mehr zurücktreten?
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