die wahrheit: Kommasaufen geht ab
Die Jugend von heute: Drogenexperten warnen vor neuer Modedroge.
Eduard so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen." Der Satz ist noch nicht verklungen, da huschen schon emsig die Edelfüller übers Papier. Die jungen Gesichter röten sich vor Anspannung, keiner will etwas falsch machen, alle wollen dabei sein. Noch einmal wiederholt der gut gekleidete junge Mann hinter dem Stehpult den Satz, wieder und wieder träufelt er frisches Gift in die Ohren der fleißig schreibenden Kinder und Jugendlichen. Dann ist das Diktat zu Ende. Eine Nachhilfeschule in Hamburg-Blankenese, wie so viele tausend andere in Deutschland. Der Lehrer Konrad D. ist ein ehemaliger Investmentbanker. Er kennt sich aus, vor und hinter dem Komma.
Und zum Kommasaufen haben sie sich wie jede Woche verabredet: Birte, Svantje, Rune, Fiete, Linde, Snorre, Wicke und die anderen Söhne und Töchter aus gutem Hause. Schon seit Jahren warnen Drogenexperten der Kriminalpolizei wie der Ermittler Jens Bördensen vor einer epidemieartigen Ausbreitung dieser tödlichen Modeerscheinung: "Kommasaufen wird das neue Crack. Wenn wir nicht schnell etwas unternehmen, werden ganze Internate in nächster Zeit wegkippen. Die Leute sind mit ihren Netzwerken schon lange in den Schulen drin. Und sie geben den Schülern, was sie so dringend brauchen, Abiturwissen und ein paar Caipis hinterher."
Birte ist 15 und kam über einen Freund hierher. Sie war neugierig und wollte es einfach mal ausprobieren. "Ein Diktat schreiben, da ist doch nichts dabei. Das haben wir in der Schule doch schon ganz oft gemacht. Und hier gabs für jeden Kommafehler eben einen Tequila Sunrise dazu." Bei einer schwierigen Passage aus den Bekenntnissen des Augustinus kam sie mit sechs Kommafehlern und sechs Wodka Lemon auf einen ordentlichen Schnitt. Doch Birte wollte mehr. Mittlerweile macht sie durchschnittlich drei Fehler pro Diktat und kommt entspannt und gut gelaunt von der Nachhilfestunde nach Hause. "Hier ist es nicht so stressig wie in anderen privaten Instituten. Wir schreiben, wir geben uns die Kante, manchmal reihern wir um die Wette, manchmal kommt einer nicht wieder. Alles prima, alles Pisa!"
Die Kriminalpolizei sieht das ganz anders. Nicht jeder Nachhilfelehrer kann sich einen Sanitäter leisten, der den ganzen Nachmittag dabei sitzt und weiß, wie man ein Beatmungsgerät bedient. Nicht jeder hat einen eigenen Barkeeper, der den Harvey Wallbanger aus dem Handgelenk schüttelt. Immer wieder kommt es zu unerfreulichen Zwischenfällen. Meistens sorgen die Eltern, die auch die Nachhilfestunden bezahlen, mit einem generösen Schweigegeld dafür, dass nichts an die Öffentlichkeit dringt. "Nachhilfe mit Nebengeräuschen", heißt das im zynischen Jargon der Szene.
Konrad D. macht alles selbst. Erste-Hilfe-Kurs und Barmixer-Videos auf YouTube. Mit eiserner Selbstdisziplin bildet er sich regelmäßig fort, den größten Teil seiner Abfindung hat er vor zwei Jahren in Alkoholika investiert. "Ich will dieser Gesellschaft, die ich jahrelang schamlos ausgenommen habe, etwas zurückgeben. Kinder, die stressresistent sind und schreiben können, sind die beste Investition in eine erfolgreiche Zukunft. Bei mir natürlich eine Investition mit hochprozentiger Rendite."
Während er die Diktate von Birte und den anderen korrigiert und seine Schüler im Freien eine Auszeit mit Elbblick nehmen, dürfen wir ihm über die Schulter schauen: "Eduard - so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter -, Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen." - "Typisch Rune", erläutert Konrad D. stirnrunzelnd. "Er macht einfach alles richtig, sogar das Komma nach diesen kniffligen Gedankenstrichen. Manchmal frage ich mich, ob er hier das bekommt, was er braucht." Birte kommt am heutigen Tag mit zwei Fehlern davon, sie hat an Stelle der Gedankenstriche zwei Kommas gesetzt. Konrad D. macht zwei kleine rote Striche an den Rand. "Falsch ist falsch, so sind die Regeln. Und Kinder brauchen Regeln." Bei Snorre, 13, muss er heute besonders oft den Rotstift ansetzen: "Eduard, so, nennen, wir, einen, reichen, Baron, im, besten, Mannesalter,,,,,," Da hat sich doch der Fehlerteufel eingeschlichen. Unter 27 Kurzen wird Snorre, der später einmal Investmentbanker werden möchte, heute nicht nach Hause gehen.
Als Birte und die anderen gegangen und Snorre sicher im Krankenwagen verstaut ist, hat Konrad D. keine Zeit durchzuatmen. Er muss lüften, nass durchwischen, Getränke kalt stellen. Bald schon kommt die Abendklasse. Und der Wissensdurst ist schier unersättlich.
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