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die wahrheitIm Rausch der Reime

Wahrheit-Lesung: "Goethes schönste Söhne" schillern in Münster.

Am vergangenen Freitag fand im Rahmen des 17. Internationalen Lyrikertreffens in Münster unter dem Titel "Goethes schönste Söhne" eine Wahrheit-Lesung der besonderen Art statt. Aus allen Teilen der Erde oder zumindest Deutschlands hatten sich sechs Dichter der Wahrheit zu einer fröhlichen Sternfahrt in die westfälische Metropole aufgemacht, um den Menschen dort Glück und Freude zu bringen. Und wie nicht anders zu erwarten, bildete die Wahrheit-Dichterlesung den absoluten Höhepunkt des Internationalen Lyrikertreffens.

Nach einem vorausgegangenen monatelangen, viertausendseitigen E-Mail-Wechsel, in dem eifrig diskutiert wurde, wie die Lesung denn strukturiert sein solle, ob sie überhaupt strukturiert sein solle und was man dort eigentlich vortragen wolle, konnten sich die sechs Dichter und die zwei Organisatoren am Ende darauf einigen, dass man sich am 1. April zunächst einmal um 16 Uhr in der Lobby eines Hotels treffen würde, um dort alles weitere zu überdenken.

Schon ab 15.50 Uhr gellten dann auch immer wieder Jubelrufe durch das große Gasthaus, wenn sich wieder ein Dichter eingefunden hatte und den bereits anwesenden Kollegen freudentränenüberströmt in die geöffneten Arme fiel. Endlich waren sie alle zusammen - ausgesucht einzig und allein nach den strengen Typ-Kriterien, die beim Casting für eine Boygroup stets angewandt werden, damit jedem Mädchenherzen ein Typ zum Schwärmen angeboten werden kann: Klaus Pawlowski verkörperte den Typ "Der Schüchterne", Georg Raabe war "Der Draufgänger", Reinhard Umbach "Der Sensible", Christian Mainz "Der freundliche Clown", Thomas Gsella "Der elegante Weltmann" und selbstverständlich konnte nur der große F.W. Bernstein "Der große Bruder" sein.

Um exakt 16.10 Uhr fuhr der geräumige Tourbus vor dem Hotel vor, um die Band in das etwa 500 Meter entfernte imposante Gebäude des Mitveranstalters, des altehrwürdigen Verlages Monsenstein und Vannerdat zu chauffieren. Eine Strecke, die man freilich auch zu Fuß hätte bewältigen können, wenn nicht der elegante Damendichter Thomas Gsella, der sich eigens für die bevorstehende Dichterlesung das Haupthaar bei einem angesagten Coiffeur hatte legen lassen, befürchtet hätte, die herrliche Frisur könne durch den leichten Nieselregen Schaden erleiden.

Auf der Fahrt zum Verlagshaus fuhr es den Veranstaltern siedendheiß durch die Knochen: Wie unverantwortlich und leichtsinnig war es doch, die gesamte Dichterelite der Welt in einem einzigen Tourbus zu transportieren. Der weise F.W. Bernstein gab dem Schrecken ein Gesicht: "Wenn der uns jetzt vor die Wand fährt, dann habt ihr ein Problem."

Gott sei Dank ging alles gut, und nur wenig später sah man Goethes schönste Söhne an einem riesigen Eichentisch unter den alles überragenden Porträts der Verlagsgründer hitzig darüber diskutieren, wie die Lesung denn strukturiert sein solle, ob sie überhaupt strukturiert sein solle und was man dort eigentlich vortragen wolle. Endlich aber schlug der Draufgänger Georg Raabe gewaltig mit der Faust auf den Tisch: "Alles hört auf mein Kommando! Wir lesen einfach in folgenden Rubriken: 1. Das wahre Wesen, 2. Die wahre Liebe, 3. Das wahre Ich, 4. Der wahre Gott und die Welt."

Niemand hatte da noch offene Fragen. Die Goethesöhne und ihre Betreuer Johannes Monse und Corinna Stegemann wanderten nun ins etwa 20 Meter entfernte Café Sputnik, vor dem sich bereits eine riesige Menschentraube versammelt hatte. Die Dichter nahmen auf dem Podium Platz, die etwa 130 Gäste erwartungsgemäß im Saal - und schon bescherten Goethes Nachkommen den Zuhörern eine Lesung, wie sie nicht schillernder hätte sein können. Die festgelegten Rubriken wurden schnell zugunsten allerlei dichterischer Freestyles zerschlagen, sodass die Zuhörer rasant zwischen Lachen, Staunen und Verehrung hin und her geschleudert wurden.

Viel zu schnell waren zweieinhalb Stunden vorbei, sie vergingen wie im Rausch - und rauschend sollte der Abend auch ausklingen. Die Boygroup zog, aufgepeitscht durch den wahrhaft begeisterten langen Applaus des glücklichen Publikums, zurück ins Hotel, wo Klaus Pawlowski und Reinhard Umbach zunächst einmal die Hotelbar zerlegten beziehungsweise ein paar Möbel umstellten. Neugierige Beobachter konnten die Poeten noch bis in die frühen Morgenstunden bei diversen Getränken auf die Pauke, oder besser: in die Tasten hauen sehen, als Thomas Gsella und Christian Maintz freudestrahlend das zufällig anwesende Hotelklavier entdeckten und vierhändig bearbeiteten.

Und als die goldene Sonne über Münster aufging, da waren sich alle einig: "Wir gehen auf Welttournee!"

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