die wahrheit: Verstimmte Schurken
Best of Wahrheit: Die Kartoffel-Affäre der Zwillinge Kaczynski.
Neben dem großen Konferenzraum im Berliner Redaktionsgebäude der taz hängt ein Schwarzes Brett. Dort werden alle vom Ausschnittdienst gesammelten Artikel aus anderen Zeitungen angepinnt, die taz-Geschichten zitieren. Wie alle Ressorts ist die Wahrheit stets ordentlich vertreten, doch im Juli 2006 bordete das Brett über.
Zeitungen aus aller Welt berichteten über die Wahrheit und ein Stück, das sich mit dem polnischen Präsidenten Lech Kaczynski beschäftigte: "Polens neue Kartoffel" (taz v. 26. 6. 2006). Der nationalkonservative Politiker war im Jahr zuvor zum polnischen Staatsoberhaupt gewählt worden, während sein Zwillingsbruder Jaroslaw im Juli 2006 als Ministerpräsident vereidigt werden sollte.
Geschrieben hatte die satirische Polemik der Göttinger Wahrheit-Autor Peter Köhler, der übrigens mit einer bahnbrechenden Arbeit über den Nonsens als literarische Kategorie promoviert hatte. Die Satire stammte aus einer Serie, die nun schon drei Jahre lief: "Schurken, die die Welt beherrschen wollen".
Köhler parodierte darin den Verlautbarungstonfall offizieller Politikerbiografien. Erstes Opfer war der "brutalstmögliche Roland Koch" im Jahr 2003, aber auch Saddam Hussein oder George "Son of a" Bush oder Jürgen "Jumbo" Trittin wurden behandelt und verarztet.
Köhlers schärfste Waffe ist bis heute die Phrasensprengung, er zerlegt eine Redewendung oder Floskel in ihre Bestandteile und setzt sie dann mit verwandten Elementen neu zusammen. So kommen dann Formulierungen zustande, dass Otto Schily "vom Finger im Getriebe zur Schraube im Staat" wurde oder dass Ursula von der Leyen "die Ellenbogen am rechten Fleck sowie ein Dauerlächeln im Vordergesicht" hat.
Diese komische Dekonstruktion der Sprache verstehen manche humorfernen Kollegen nicht - wie zum Beispiel die Mitarbeiter des Spiegel, und so landeten Zitate Köhlers bereits mehrfach im "Hohlspiegel", der eigentlich unfreiwillig komische Fehlleistungen von Journalisten abbilden soll. Dass Köhlers Katachresen, also schiefe Sprachbilder, bewusst als Stilmittel der Komik eingesetzt werden, geht über den Horizont des Hamburger Sturmgeschützes.
Im Fall Kaczynski wählte die Redaktion bewusst den Kartoffel-Titel in Anlehnung an Satiren der achtziger Jahre über den seinerzeitigen Papst Johannes Paul II., der von der Neuen Frankfurter Schule nur "die polnische Kartoffel" genannt wurde. Jetzt waren "Polens neue Kartoffeln" herangewachsen, und die knollige Metapher schien Lech Kaczynski und seinen Bruder Jaroslaw fast noch mehr zu wurmen als die Anspielung auf ihre Mutter, bei denen einer der Zwillinge damals noch wohnte, was ihn zum Muttersöhnchen machte.
Nach einer eilig von offizieller Seite angefertigten, fehlerhaften Übersetzung ins Polnische war der Teufel los im Warschauer Präsidentenpalast. Das polnische Staatsoberhaupt ging sogar so weit, ein Treffen des sogenannten Weimarer Dreiecks am 3. Juli 2006 abzusagen, angeblich könne er "wegen einer plötzlichen Magenverstimmung" nicht zum Termin mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac und der deutschen Kanzlerin Angela Merkel erscheinen, hieß es. Kaczynski aber war schlicht beleidigt und hob die eher harmlose Satire auf eine höhere diplomatische Ebene.
Er forderte eine offizielle Entschuldigung des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier, der das absurde Ansinnen mit dem Verweis auf die in Deutschland herrschende Pressefreiheit selbstverständlich ablehnte. Als die Geschichte zum Aufmacher in der abendlichen "Tagesschau" vom 3. Juli 2006 wurde, hatte die Wahrheit endgültig eine "Staatsaffäre" ausgelöst, wie die taz am 5. Juli 2006 auf der Seite eins titelte.
Ohne den Vorgang allzu nationalküchenpsychologisch erklären zu wollen, lässt sich die Sicht der Kaczynskis ungefähr so darstellen: Nach ihrer bäuerlich-konservativen Ideologie, die direkt aus den fünfziger, wenn nicht dreißiger Jahren ins neue Jahrhundert transportiert worden zu sein scheint, ordneten die Kaczynski-Brüder den satirischen Angriff auf das polnische Staatsoberhaupt als Teil einer angeblichen publizistischen Kampagne der deutschen Medien gegen die polnische Nation ein.
Dazu gehörte die vermeintlich wieder gewonnene Stärke der deutschen Vertriebenenverbände unter Führung der unsäglichen Erika Steinbach, aber auch die immer wieder auftretende Gedankenlosigkeit deutschsprachiger Medien, die von "polnischen Konzentrationslagern" schrieben, wenn sie die auf dem Gebiet Polens liegenden Todeslager des Dritten Reichs meinten, was von den verblüffend ignoranten Kaczynskis und ihrem Gefolge als Versuch der Entschuldung der deutschen Täter gesehen wurde.
Nichts davon hatte mit Köhlers Wahrheit-Satire zu tun. Dennoch setzte Kaczynski seine Truppen zumindest sinnbildlich in Marsch. Wegen Beleidigung ermittelte die "Prokuratura Okregowa", die Bezirksstaatsanwaltschaft, Warschau gegen den Autor und die verantwortlichen Redakteure, die unter der Hand gewarnt wurden, in nächster Zeit besser nicht nach Polen zu reisen. Man hätte an der Grenze verhaftet werden können, denn "wegen einer Tat aus dem Artikel 135 Paragraf 2 des Strafgesetzbuches", wie der Bezirksstaatsanwalt "hochachtungsvoll" schrieb, drohte eine nicht geringe Strafe.
Das weltweite Echo war enorm, das Ausschnittbrett in der taz bog sich unter der Flut der Zeitungsschnipsel. Um den Autor zu schützen, der bei solchen Geschichten aus Sicherheitsgründen prinzipiell aus der Schussrichtung gehalten wird, gab der verantwortliche Wahrheit-Redakteur eine Stellungnahme nach der anderen ab und war plötzlich überall auf Sendung: live in den Nachmittagsnachrichten von N24; als Interviewpartner für in- und ausländische Radiostationen; für das dänische und holländische Fernsehen sowie für den afrikanischen Dienst von Deutsche Welle TV.
Zeitungen aus aller Welt wie die New York Times, India Daily, Gulf Times, der Sydney Morning Herald oder auch das Borneo Bulletin ließen ihre Korrespondenten über den bizarren Skandal berichten, die Resonanz auf das "Potato-Gate" (The Atlantic Times) war immens - besonders in Polen. Gerade die polnischen Leserbriefe vermittelten eher einen positiven Tenor im Nachbarland: Die Kaczynskis müssten lernen, dass sie keine absolutistischen Herrscher sind und ihre Kritiker nicht wegen Majestätsbeleidigung verfolgen könnten.
Und was war des Ende des Spottliedes? Hat der Text über die Medienrezeption hinaus eine spürbare Wirkung erzielt, gar Veränderungen bewirkt? Wohl kaum. Die Geschichte wurde in ein Kartoffelkochbuch aufgenommen ("60 Rezepte und Geschichten rund um die bunte Knolle"). Und nach einem Jahr wurden am 7. 12. 2007 die Ermittlungen in Warschau stillschweigend eingestellt. Auch eine Beschwerde beim Deutschen Presserat wurde 2007 als unbegründet zurückgewiesen.
Und Lech Kaczynski selbst? Der "Enterich", wie sein Spitzname in Polen lautete, ist inzwischen tot, im Jahr 2010 stürzte er mit einer Regierungsmaschine in Russland beim Anflug auf Katyn, den mystischen Ort der polnischen Geschichte, ab. Nihil nisi bene - nichts Schlechtes über die Toten soll man sagen, heißt es, und das gilt auch an dieser Stelle.
Dafür behalten wir uns alles Entsprechende für die Lebenden vor. Treibt doch Lechs Zwillingsbruder Jaroslaw immer noch sein Unwesen in der polnischen Politik und hält wahlweise die Russen oder die Deutschen für die größten Übeltäter seiner Zeit. Lassen wir ihm diesen Glauben. Er wird der polnischen Spaßbremse auch in Zukunft wenig nützen.
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