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die wahrheitDer Gagagastrokritiker

Neues vom Frankfurter Allgemeinen Küchenmoses: Er geht aufs Ganze.

"Küchenmoses" heißt auf der Wahrheit-Seite Jürgen Dollase, der Gastronomiekritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, weil er vor Jahren - wie Moses in der Bibel - von den Höhen ins Flache hinunterstieg und dem Pöbel die zehn Gebote der avancierten Küche verkündete. Schnell merkte der Leser allerdings, dass es bei Dollase nicht um das Essen und Kochen geht, sondern um das "Deklinieren" oder "die endgültige Formulierung" von Mund- und Gaumenbefindlichkeiten. Der Kritiker hat das Essen längst hinter sich und ist beim "strukturellen Essen" angelangt - also beim "Postessen", wie es heute wohl hieße.

Der Strukturalismus ist - von der Linguistik bis zur Ethnologie - eine anstrengende Disziplin. In der Gastronomiekritik läuft er auf Kantiges hinaus, etwa "Austern und Gorgonzola", "Kaffeeöl" oder ein "mit Käse überbackenes Fischfilet", was im Mund "eine differenzierte texturelle und aromatische Mechanik" in Bewegung setzen soll. Kritiker des Strukturalismus meinten jedoch schon immer, dieser beruhe auf der Verwechslung von Feinmechanik mit Denken.

Bei Dollase beruht die Mechanik zur Analyse eines "kulinarischen Werks in ganzer Komplexität" auf "sieben Punkten", die einen "systematischen Rahmen" bilden. Ohne System geht im Strukturalismus nichts, denn das System garantiert klare Verhältnisse, weil "das System immer tut, was das System tut", wie "Frau immer tut, was Frau tut" (Niklas Luhmann). Nur Romantiker halten derlei theoretisch für tautologisch, auf Deutsch: doppelt gemoppelt, und praktisch für frauenfeindlich.

Dollases "sieben Punkte" haben solide gräco-lateinische Wurzeln, zumindest was die sprachliche Form betrifft: 1. "Morphologie", 2. "Sensorik I", 3. "Sensorik II", 4. "kulinarische Konstruktion", 5. "Rezeption und assoziative Verknüpfungen", 6. "historische und stilistische Einordnung, 7. "ästhetische Diskussion und Wertung".

Eine Diskussion der einzelnen Punkte im "systematischen Rahmen" lohnt sich nicht. Es geht immer um das Gleiche und das Eine: das große Ganze, nämlich "die Rückkoppelung" eines Gerichts "an die (kulinarische) Entwicklung der Gesellschaft oder die Stellung des Kulinarischen in der Gesellschaft". Etwas weniger verfettet gesagt: Was wir essen, ist angeblich immer Ausdruck des kulinarischen Niveaus der Gesamtgesellschaft. Solche Totalaussagen über das Ganze nennt der Sozialwissenschaftler "überdeterminiert", weil empirisch nicht verifizierbar, aber für den küchenmechanischen Gebrauch kann man es ja mal probieren mit solchen wichtigtuerischen Floskeln.

Punkt 6 überrascht dann aber doch in seiner Dreistigkeit: Dollase schmeckt sogar Geschichte im kulinarischen Arrangement und schwärmt von einer "geradezu historisch schmeckenden Fleisch- und Gemüsesauce". Und nicht nur das: "Man schmeckt die Region, und es wirkt … wie die Essenz des Ganzen, wie ein tieferes Verständnis der eigentlichen Materie jenseits des Handwerks." Ja, ja "das Ganze", das das Unwahre ist, und "das Eigentliche" - Index fürs rundum Falsche, wie ein großer Frankfurter einst meinte - irrlichtern jetzt auch gastrokritisch verkitscht durch die Frankfurter Allgemeine Küchenzeitung.

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