piwik no script img

die stimme der kritikBetr.: „Big Brother“

ZU VIEL MENSCHENWÜRDE KANN SCHADEN

Bislang scheint „Big Brother“ noch nicht so der Renner zu sein. Andererseits ist auch wieder absurd, dass man sich als einer von anderthalb Millionen, die das Ganze alltäglich aus soziologischem Interesse observieren, noch außenseiterischer vorkommt, als wenn man irgendein wichtiges Buch liest, dass grad mal eine Auflage von 20.000 hat.

Die Phase der großen Aufregung um die „Reality Soap“ ist jedenfalls vorbei, vergessen und verweht sind längst die schönen Worte der Experten, wobei man sich immer wieder gern an die sächsische Psychiaterin erinnert, die in der FR beklagte, „dass man zwar um jede Million Wiedergutmachung für NS-Zwangsarbeiter feilschte, aber für Big Brother Millionen in den Werbeetats bereitstehen“ und – irgendwie sehr quengelig – darauf beharrte, dass „Voyeurismus“ bis heute als „Perversion“ zu gelten habe.

Vor ein paar Tagen nun wurde der Menschenwürde-Kompromiss, den der Big-Brother-Sender RTL2 mit den um was weiß ich besorgten Landesmedienanstalten geschlossen hat, in die Tat umgesetzt. Nun können sich die KandidatInnen jeden Tag eine Stunde lang unbeobachtet von der Welt in ihren Schlafzimmern mit ihrer Menschenwürde amüsieren.

Die bislang eher knuddeligen Insassen der Reality-Show reagierten entsetzt und verwiesen in kämpferischen Reden auf die voyeuristischen Schlüssellocheffekte und die Mutmaßungen, denen die Stunde des Nichtbeobachtetseins Vorschub leisten würde, auf neue Möglichkeiten geheimdiplomatischen Fieszueinanderseins, die sich so eröffneten, und klagten logischerweise über Politiker, die, ohne mit ihnen gesprochen zu haben, über ihre Köpfe entschieden hatten. Was sie sagten, war richtig und klang so ähnlich wie die Argumentationen, mit denen man etwa für die Legalisierung von Cannabis zu streiten pflegt. Es wäre nun sehr schön, lehrreich und vor allem auch unterhaltsam, wenn die Eingeschlossenen für ihr Recht auf lückenloses Beobachtetwerden bei irgendwem klagen würden. Apropos: Würden Sie noch einmal die Volkszählung boykottieren?

DETLEF KUHLBRODT

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen