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die stimme der kritikBetr.: Die französische DNS

Hinter jedem Streik lauert die Hydra der Revolution

Der Zeitgeist hat Recht: Es muss an den Genen liegen. Irgendwo in der DNS-Kette haben die Franzosen ein kollektives, noch nicht lokalisiertes Erbmerkmal versteckt, das uns Deutschen fehlt. Wie sonst wäre es erklärbar, dass nicht nur die Spediteure, die Frankreichs Raffinierien blockieren, sondern auch deren Opfer, die Tankstellenpächter und deren Konsumenten, auf die große Frage der Reporter nach dem Warum unisono antworten: „Uns Franzosen liegt eben die Revolution im Blut.“

In den vergangenen Jahrzehnten hat es auch in Frankreich nicht an Versuchen gefehlt, diese Krankheit durch Umerziehung zu beseitigen, aber Blut ist eben schwer veränderbar. Umsonst mühten sich Historiker und Soziologen, ihren Landsleuten nachzuweisen, dass Revolutionen, angefangen von der großen des Jahres 1789, nichts hervorgebracht haben, was nicht schon sowieso im Lauf der Dinge gelegen hätte. Dass die Verbesserungen (so es überhaupt welche gab) in keinem Verhältnis zu den Übeln standen, die jede Revolution unweigerlich nach sich gezogen hat. Dass, wo Vernunft behauptet wurde, der schiere Wahnsinn triumphierte. Alles vergeblich! Die Revolution wird nicht nur in Konventikeln der Ewiggestrigen gefeiert, wie zum Beispiel der „Nationalen Gesellschaft für die Französische Revolution“, wo man sich, beim Schweinskopfessen einander zuprostend, der Hinrichtung des armen Königs Ludwig erinnert, sondern jedes Jahr strömen Hunderttausende zusammen, um ein nachgewiesenermaßen lächerliches Ereignis, einen schieren Mythos, den Sturm auf die Bastille, in aller Öffentlichkeit zu feiern.

Und damit nicht genug: Die Revolution wird auch da bemüht, wo in Wirklichkeit der Kampfform nach nur Verkehrsblockaden und den Zielen nach nur Steuernachlassforderungen an den Staat, den verachteten, angesagt sind. Aber Vorsicht: Kleine Anlässe, große Folgen! Und hat nicht Lenin, zwar kein Franzose, aber doch Abkömmling eines genetisch in Sachen Revolution anrüchigen Volkes, gesagt: „Hinter jedem Streik lauert die Hydra der Revolution!“?

Der Genetik sei Dank, wir Deutschen leiden nicht an dieser Erbkrankheit. Ernst Busch hat unsere Anlagen in seinem auf die Sozialdemokratie gemünzten, aber verallgemeinerbaren Song aus den Zwanzigerjahren sehr schön zusammengefasst: „Dann fielen wir auf die Beine / und wählten Schwarz-Rot-Gold. / Die Revolution kam von alleine. / Wir haben sie nicht gewollt!

CHRISTIAN SEMLER

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