die stimme der kritik: Was Berlins neuer Finanzsenator schon 1993 über Verschuldung und Konsenspolitik wusste
„Öffentlicher Kredit und Staatsbankrott“ – ein Fachbeitrag von Thilo Sarrazin
Das Wesen des politischen Prozesses besteht in der Definition der Entscheidungsnotwendigkeiten. Dabei geht es stets auch um die Produktion von Konsens. Der Wunsch nach Zustimmung, Kompromiss, Befriedung und zumindest zeitweiliger Befreiung vom Problemdruck führt regelmäßig dazu, dass man versucht, Entweder-oder-Entscheidungen zu vermeiden und stattdessen Sowohl-als-auch-Entscheidungen zu treffen.
Dies wird immer dann zum Problem, wenn es um die Verteilung knapper Ressourcen, insbesondere also Finanzfragen geht. Das Arsenal der Verschleierungsinstrumente zur Herstellung eines Sowohl-als-auch-Konsenses, wenn eine Entweder-oder-Entscheidung angebracht wäre, ist riesengroß:
– Unterveranschlagung,
– fehlende oder unvollständige Folgekostenberechnungen,
– Teilgenehmigungen, die eine nicht offenbarte Entscheidung in der Hauptsache bedeuten,
– Globaleinsparungen, die wegen fehlender Entscheidung in der Sache nicht umsetzbar sind,
– überhöhte Einnahmeschätzungen.
Eine besondere finanzpolitische Brisanz erhält die der Politik immanente Tendenz zur Problemverdrängung aus dem Umstand, dass es keine allgemeine Theorie des Staatsdefizits gibt, aus der sich hinreichend konkrete Handlungsanweisungen ableiten ließen. Mit etwas Formulierungskunst und ökonomischer Halbbildung lässt sich auch in der tiefsten Defizitkrise noch immer eine „keynesianische Situation“ entdecken, die ein „entschlossenes Gegensteuern“ des Staates im Sinne von mehr Ausgaben oder der Verhinderung weiterer Einsparungen notwendig macht, zumindest aber Argumente zur Bekämpfung der vorgeschlagenen „falschen“ Einsparungen liefert. Weil die Volkswirtschaftslehre halt keine exakte Wissenschaft ist, findet nahezu jeder denkbare finanzpolitische Kurs notfalls auch Unterstützung durch einige Stimmen, die im Expertenrufe stehen.
Davon versuchen Finanzminister aller Parteien – unterstützt durch besorgte Leitartikler – die politischen Entscheidungsträger ständig mit dem Hinweis auf die wachsende Zinsbelastung abzuhalten. Dieser Dauerhinweis konkurriert mit wechselnden, stets dringlich gemachten Bedarfen der unterschiedlichsten Art:
– steigende Schülerzahlen,
– steigende Kriminalitätsraten,
– steigende Zahl der Sozialhilfeempfänger,
– steigende Arbeitslosigkeit,
– steigender Wettbewerbsdruck für die Wirtschaft.
Im Zweifel findet dann der politische Entscheidungsapparat zu dem Kompromiss, für kürzere oder längere Zeit etwas mehr Verschuldung zuzulassen.
Gekürzt, aus der Zeitschrift „Verwaltung-Organisation-Planung“ 5/1993 (heute: „innovative verwaltung“);Sarrazin war damals Staatssekretär im Finanzministerium Rheinland-Pfalz
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