die sache ist: Ein Seelenkanu als Segnung
Der indigene Bildhauer David Seven Deers aus Kanada erschafft in Lübeck aus Granitsteinen ein „Seelenkanu“ – im Rahmen einer Ausstellung, die das Indianerbild der Deutschen hinterfragt
Besucher*innen der Lübecker Altstadt können zurzeit Zeuge eines ungewöhnlichen Live-Art-Projekts werden, das im Schatten der beiden mächtigen Backsteintürme des Lübecker Doms entsteht. Hier brennen in einer Muschel Salbeiblätter, rote Gebetssäckchen und Krähenfedern wehen im Wind. Unter einem Zeltdach stehen die zwei Hälften eines zweieinhalb Meter hohen, sieben Tonnen schweren Granitblocks. Dort arbeitet David Seven Deers und begrüßt uns mit „See Jah Jeh“, der Gruß in seiner Sprache, der Halkomelem Salish in Vancouver in Westkanada.
Der Bildhauer meißelt hier für mehrere Monate als Künstler in Residence ein „Seelenkanu“. Auf den beiden Schnittflächen sind schon die zwei Zwillingshälften des Bootes zu sehen, darauf Geister in Tiergestalt: ein Rabe und ein Hirsch, ein Marder und ein Kolibri. Auf einer Seite steht eine Frau mit einem Siebenstern in der Körpermitte, ihr gegenüber ein Geistermann mit einer Harpune. Unter den Kanu-Hälften schwimmen ein Stör und ein Pottwal.
Gerade zeichnet Seven Deers die Formen sorgfältig in schwarzer Farbe nach. „Was ich hier mache, ist keine Kunst“, sagt er – sondern ein Gebet, Medizinarbeit. „Meine Kultur basiert auf Geschenken“, erklärt er. Gemeint ist der traditionelle „Potlatch“, große Geschenk-Feste, die wichtiger Teil der kanadischen Traditionen waren und sind. Das Seelenkanu ist sein Geschenk an die Stadt. Wenn es fertig ist, wird es „an einer Stelle in der Nähe des Wassers“ aufgestellt. Denn das haben Westkanada und Lübeck gemeinsam: Sie haben viel Wasser.
Während die Skulptur entsteht, kommen immer wieder Besuchende vorbei, unterhalten sich mit ihm, manche kennt er schon. Jeden Donnerstagabend nimmt er sich Zeit für ein Gespräch am Lagerfeuer. Dass er in der Öffentlichkeit arbeitet, ist Teil des Projekts und einer Ausstellung, die im angrenzenden Museum für Natur und Umwelt zu sehen ist. Sie heißt „Fantasie und Vielfalt. Nordamerika in der Sammlung Kulturen der Welt“ und zeigt hundert Objekte aus der Lübecker Sammlung. David Seven Deers hat sie mit kuratiert.
„The Spirit Canoe“: im Hof de Museums für Natur und Umwelt, Lübeck; bis mindestens 16. 10. ist David Seven Deers täglich dort anzutreffen. Jeden Donnerstag ab 18 Uhr kann man mit ihm am Lagerfeuer ins Gespräch kommen, Geschichten erzählen und Gedanken austauschen
Den Leiter der Sammlung, Lars Frühsorge, lernte er 2010 bei Arbeiten für die Ausstellung „Herz der Maya“ in Hamburg kennen. Die Maya in Guatemala kannten auch das Konzept eines Seelenkanus, ebenso wie die ägyptischen und altgriechischen Kulturen, erzählt er, wo solche Boote die Verstorbenen ins Jenseits brachten.
Seven Deers, der fließend Deutsch spricht, hat sich mit der Kulturgeschichte Europas beschäftigt. Im Lübecker Wald hat er ein steinzeitliches Hügelgrab besucht, das selbst viele Lübecker*innen nicht kennen, und auf dem Seelenkanu ist Platz für regionale Geistwesen wie einen Wichtel. „Nicht nur unser Land ist heilig, eures ist es auch“, sagt er. „Wir erinnern euch daran, was ihr zurückgelassen habt.“ Friederike Grabitz
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