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die sache istBoxentürme als Refugium

Zwischen Party und Diskriminierung – wie Soundsysteme vom Werbemittel im jamaikanischen Schnapsverkauf zum Teil der Migrationskultur in England wurden

Foto: naturalbornstupid/Flickr/CC-BY-SA

Beim Wort „Soundsystem“ denken viele an industrielle Musikanlagen, wie man sie in Clubs oder Konzertlocations findet. Hinter dem Begriff versteckt sich aber eine Subkultur, die dem Mainstream größtenteils unbekannt bleibt. Hier ist Soundsystem ein fester Begriff für riesige, mobile Boxentürme, meist größer als Autos. Die Anlagen sind selbst gebaut und sollen vor allem starken Bass bieten. Gespielt werden basslastige Musikrichtungen, die vom Reggae abstammen.

„Eine Art Holzwand mit Lautsprechern“, erklärt es Helmut Philipps. Er ist Tontechniker, seit den 70er-Jahren international im Reggae aktiv und Autor des Buchs „Dub Konferenz: 50 Jahre Dub auf Jamaika“. Dafür hat er jahrelang recherchiert, mit zahlreichen Personen aus der Szene gesprochen und mehrfach ­Jamaika bereist.

Dort beginnt in den 1940er-Jahren die Geschichte der Soundsystems. „Ganz am Anfang steht die Idee, dass man draußen auf freien Flächen Partys feiert“, sagt Philipps. So hatten Alkoholverkäufer ihre Verkäufe steigern wollen. Für Partys braucht es Musik, und so entstanden erste – damals noch kleinere – Soundsystems.

„Es gab zwei Sorten Rum und Bier, da kann eben kein Wettbewerb sein. Das heißt, der Lockstoff müssen die Musik und das Entertainment darum sein.“ Über die Jahre wurden die Soundsystems deshalb immer größer, um möglichst viel Publikum zur eigenen Party zu bringen.

Ein Altar für die Szene

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verbreiteten sich die Soundsysteme auch in England. Damals kamen viele Ja­mai­ka­ne­r*in­nen dorthin, um beim Wiederaufbau zu helfen. „Die Regierung hatte sie geholt, aber das englische Volk wollte die Leute nicht haben. Da gab es dann an den Häusern Schilder: ‚No dogs, no irish, no blacks‘“, so Philipps. Armut und Rassismus dominierten das migrantische Leben. Um dem zu entkommen, entstanden in den jamaikanischen Communitys Soundsystems.

Mit diesen konnten die Ja­mai­ka­ne­r*in­nen zumindest für einen Abend der harten Realität entfliehen. „Eine Art spirituelle Antibewegung“, so Philipps. „Auf Jamaika ist es eine Volks­kultur. In England war es ein Refugium gegen die Welt der englischen Gesellschaft, die sie nicht haben will.“

In Deutschland gab es ursprünglich keine große Reggae-Szene, weshalb Fans nach London geflogen sind, um Platten zu kaufen. In den 90ern haben sich dann auch in Deutschland Soundsystems etabliert. Die Szene ähnelt eher der aus England als der Jamaikas. Nicht weil ihre Mitglieder ähnliche Diskriminierungserfahrungen wie jamaikanische Mi­gran­t*in­nen gemacht haben – schließlich wirkt die Szene in Deutschland nach außen überwiegend weiß. Eher, weil die Soundsysteme hierzulande Teil des Undergrounds ist, „eine Gegenwelt gegen die normale Gesellschaft“, sagt Philipps. „Dieses Gefühl, Outsider zu sein und einen Fluchtpunkt zu haben, das gibt es auch bei uns.“

Soundsystem-Partys: „Soundsystem Hildegard presents: Poison flower Party – Tanz in den High Edition“, Mi, 30. 4, 21 Uhr, Walhalla Braunschweig; „ILIVITY presents: Jah Vibes Sound System (6 Scoops) with Sister Adilisha on the controls“, Fr, 2. 5, 23 Uhr, Hafenklang Hamburg

Technisch gesehen sind die Soundsystems mittlerweile überholt. Aber darum geht es in der Szene eben nicht – das sieht auch Philipps so. „Was da vorne steht, ist ein Altar, ein ikonisches Möbel in der Szene. Das kann man nicht ersetzen.“ Der Reiz sei der starke Bass. „Man darf das Körperliche nicht unterschätzen. Da werden Frequenzen auf die Reise geschickt, die man nicht nur hört, sondern auch spürt.“ Louisa Eck

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