die sache ist: Kulturgeschichte auf Pappe
Erfunden, um unschöne Pfützen zu vermeiden, ist der Bierdeckel zum ikonischen Objekt der Alltagskultur geworden. Eine Ausstellung im Horst-Janssen-Haus zeigt, was der Künstler auch darauf gezeichnet hat
An einem lauen Sommerabend im Jahr 1880 erfindet Friedrich Horn in einer deutschen Druckerei den Bierdeckel aus Pappe. Eine simple Idee, um die Tische in den Wirtshäusern vor unschönen Bierpfützen zu retten. Doch daraus wird schnell mehr. Bald sind die Pappstücke nicht nur praktische Helfer, sondern auch Aushängeschilder der Brauereien, verziert mit Logos, Sprüchen und Designs, die von der Welt erzählen, aus der sie stammen.
Denn Bierdeckel können eine ganze Menge über Kultur verraten. Sie spiegeln die Vorlieben und den Humor einer Region wider: Ein bayerischer Deckel mit Brezen-Motiv ist Welten entfernt von einem norddeutschen mit einem trockenen Spruch über Fisch und Wind. Bierdeckel zeigen, wie sich Geschmack und Gesellschaft wandeln: Frühere Exemplare haben verschnörkelte Schriften, moderne kommen oft minimalistisch oder ironisch daher. Manche haben politische Anspielungen, andere feiern lokale Feste.
In Belgien zeigen sie oft mittelalterliche Motive oder die Vielfalt der Trappistenbiere, ein Zeichen für die tiefe Verwurzelung des Brauens in der klösterlichen Geschichte. In England prangen Pub-Namen und Wappen auf den Deckeln, die zeigen, wie stolz man dort auf die Kneipen und deren Rolle als soziale Treffpunkte ist. In Japan gibt es Bierdeckel mit Manga-Figuren. Überall sind sie mehr als Untersetzer, das kleine Stück Pappe ist eine kulturelle Bühne.
Auch in der Politik tauchen Bierdeckel auf – wie bei Friedrich Merz’ berühmt-berüchtigten Bierdeckel-Steuerplan 2003 – ein Steuersystem so übersichtlich, dass es auf einen Bierdeckel passt, als Symbol für Einfachheit und pragmatische Lösungen – Kneipenrhetorik.
Für Sammler:innen sind Bierdeckel wie kleine Zeitreisende: Ein verblichener Deckel aus einer untergegangenen Brauerei, ein rares Künstlerstück – jedes erzählt seine Geschichte. Manche tauschen sie, andere horten sie in Vitrinen, und ja, es gibt Exemplare, die einen ordentlichen Batzen wert sind: Wegwerfobjekte, die einem flüchtigen Zweck dienen, aber Jahrzehnte überdauern.
Diese Spannung zwischen Vergänglichkeit und Dauer hat auch Künstler wie Horst Janssen angezogen. Der Mann hatte ein Auge fürs Alltägliche und griff halt zum Bierdeckel, wenn beim Trinken die Inspiration kam. Mit schnellen Strichen und einem Glas in Reichweite entstanden kleine Kunstwerke – ein Gesicht, ein Detail.
Im Horst-Janssen-Museum in Oldenburg greift die Ausstellung „Kulinarische Kunst“ das gerade auf. Da sieht man neben Bierdeckeln lauter Alltagsgegenstände: Servietten mit feinen Zeichnungen, die Janssen bei Tisch kritzelte. Dazu kommen Platzkarten, die er mit individuellen Skizzen und Texten versah, um den Moment des Wartens auf das Essen zu füllen, mal mit Landschaften, mal mit spontanen Ideen.
Die Ausstellung zeigt auch Alltagsgegenstände, die Janssens exzentrischen Stil und seine Marotten widerspiegeln: vom Morgenkaffee über selbstgemachte Apfel-Pfannkuchen bis zum Absacker in der Kneipe. Zu sehen sind auch detaillierte Grafiken von Speisen – Fleisch, Fisch, Früchte –, die nicht nur seinen Zeichenstrich, sondern auch seine Liebe zu Geselligkeit und Lebenslust offenbaren. Robert Matthies
Ausstellung „Horst Janssen tischt auf“: bis 9. 6., Horst-Janssen-Museum Oldenburg; www.horst-janssen-museum.de
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