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der tippSprachabteil

Literaturkurse im Zug

Wer zu spät kommt, hat am Reutlinger Bahnhof mitunter doppelt Pech: Nicht nur der Zug nach Stuttgart wird verpasst, sondern auch gleich der gebuchte Volkshochschulkurs.

Morgens um 7 Uhr 48, wenn sich so mancher Zeitgenosse sich noch verschlafen die Augen reibt, beginnt nämlich auf der Schiene der Konversationskurs Business-Englisch. Während der knapp einstündigen Fahrt nach Stuttgart lernen die fünf Teilnehmer Vokabeln und bereiten sich mit der Dozentin auf den englischen Büroalltag vor. Damit nicht zu viele Zaungäste ohne Bezahlung am Kurs teilnehmen, findet der Kurs extra in einem 1.-Klasse-Abteil statt.

Sicherheitshalber werden die Türen mit so genannten Flippcharts sichtdicht gemacht. Praktisch: Das mit Saugnäpfen angebrachte Papier lässt sich gleichzeitig auch als Schreibtafel benutzen. Und so vergeht die Fahrt zwischen Themen wie Broking und Teamwork wie im Flug.

Die Idee zu den rollenden Kursen hat Susanne Fuchs, Abteilungsleiterin Sprachen der Volkshochschule Reutlingen, in Frankreich bekommen. Dort wurden im TGV schon vor Jahren Managerkurse angeboten, die auch großen Anklang fanden. Begeistert von der Mischung aus Reisen und Lernen trat sie in Verhandlungen mit der Deutschen-Bahn-Tochtergesellschaft DBZugBus RAB.

Nach einer Fahrgastumfrage zur Bedarfsermittlung gab die Bahn vor zwei Jahren grünes Licht für die Kurse und übernimmt seitdem die Ticketkosten für die Lehrkräfte. Die Teilnehmer dagegen müssen zahlen. „Die meisten sind sowieso Pendler und haben eine Monatskarte“, so Fuchs. Vorteil: Die paukenden Zuggäste dürfen auch mit einem 2.-Klasse-Ticket im 1.-Klasse-Abteil reisen. Mit 105 Mark für sechs Unterrichtsstunden liegen die einmal in der Woche stattfindenden Kurse im Bereich des Üblichen.

Ein Prestigeprojekt ist das ungewöhnliche Kursangebot allemal, hat doch die Volkshochschule Reutlingen dafür in diesem Jahr den Innovationspreis des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung erhalten. Und auch Nachahmer haben sich bereits gefunden. So werden beispielsweise seit neuestem auch auf der Strecke Wolfsburg–Hannover Fremdsprachenkurse angeboten.

Schöngeister, die so gar nichts vom Businessenglisch wissen wollen, können seit Oktober diesen Jahres auch einen Literaturkurs auf dem Weg nach Stuttgart buchen oder Alltags-Englisch, sowie Französisch, Italienisch und Spanisch lernen. Für die Rückfahrt am Nachmittag würde Fuchs ebenfalls gerne Kurse anbieten. „Zum Beispiel Autogenes Training oder Ernährungslehre“, hat sie schon überlegt. Allerdings müssten die Abteile dann wirklich ruhig sein. Das zu erreichen, dürfte in Zukunft noch schwerer sein: Die neuen Züge auf der Strecke Reutlingen–Stuttgart verfügen nämlich der größeren Übersichtlichkeit wegen über keine geschlossenen Abteile mehr. CHRISTINE BERGER

Weitere Informationen sind in der Volkshochschule Reutlingen erhältlich, unter der Telefonnummer (0 71 21) 33 61 35

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