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Deutsche NahostpolitikDeutschland muss Israel mit Sanktionen drohen

Stefan Reinecke
Kommentar von Stefan Reinecke

Der Gaza-Krieg radikalisiert sich. Jetzt reicht es nicht mehr, wenn sich Deutschland nur besorgt über das Sterben der Palästinenser zeigt.

Rauch steigt nach israelischen Angriffen aus einem Zeltlager für vertriebene Palästinenser in Khan Younis auf, 19. Mai 2025 Foto: Hatem Khaled/reuters

D ie deutsche Nahostpolitik bewegt sich seit Jahrzehnten in den gleichen Bahnen. Deutschland versorgt Israel mit Waffen und politischem Schutz – und Palästina mit Geld. Dieser Doppelkurs, der immer zwischen Pragmatismus und Bigotterie schillerte, ist am Ende. Angesichts der Radikalisierung des Gaza­kriegs und der massiven Vertreibungen im Westjordanland durch jüdische Siedler wird diese Haltung zur Realpolitik im Stadium des ­Irrealen. Man klammert sich an Gewissheiten, die mit jedem verjagten Palästinenser im Westjordanland und jedem toten Zivilisten in Gaza pulverisiert werden.

In Deutschland beruft man sich mit zerfurchter Stirn auf die NS-Geschichte, die Pflichten mit sich bringe. Man könne nicht anders. In mutigen Momenten fordert Kanzler Friedrich Merz den israelischen Premier Benjamin Netanjahu dazu auf, angesichts der von Israel inszenierten Hungersnot in Gaza Hilfslieferungen zu erlauben. Das macht in Jerusalem gewiss Eindruck.

Die israelische Armee begeht Kriegsverbrechen. Sie hat Tausende von Unschuldigen getötet – und wird das jetzt mit noch mehr Feuerkraft, Bomben, Toten fortsetzen. Netanjahu hat den Waffenstillstand gebrochen. Das Ziel ist nicht mehr, die Hamas auszuradieren. Das Ziel ist, „Gaza vollständig zu zerstören“, so der rechtsradikale Finanzminister Bezalel Smotrich. Die Netanjahu-Regierung will den Palästinensern das Leben zur Hölle machen und Hunderttausende zur Flucht zwingen. Israel arbeitet unverblümt an einer ethnischen Säuberung. Was muss noch passieren, ehe man im Kanzleramt begreift, dass es nicht mehr reicht, sich nur „besorgt“ wegen des Sterbens in Gaza zu zeigen?

Verpflichtet die NS-Geschichte wirklich dazu, wie es Steinmeier tat, Netanjahu lächelnd die Hand zu drücken und ihn, wie Merz es tun will, wider internationales Recht, nach Berlin einzuladen? Verpflichtet die NS-Geschichte dazu, in der EU alle Versuche zu bekämpfen, Israel sanft unter Druck zu setzen? Dazu, einer Armee Waffen zu liefern, die Verbrechen in einem mittlerweile illegitimen Krieg begeht, der die nächste Gewalteskalation wahrscheinlicher und alles schlimmer macht?

Brüssel zeigt Netanjahu die Instrumente

Israel ist dabei, sich von einem zionistischen in einen national­religiösen Staat zu verwandeln. Die oft beschworene Freundschaft mit Israel bedeutet nicht, diesen (selbst)zerstörerischen Trip mit mahnenden, aber verlässlich folgenlosen Worten zu begleiten.

Denn dieser maßlose Krieg korrumpiert auch die militärisch weit überlegene Macht. Der Gazakrieg frisst sich wie Rost in die israelische Demokratie. Er brutalisiert die Gesellschaft. Eines der wenigen hoffnungsvollen Zeichen ist, dass sich Reservisten weigern, in Gaza zu kämpfen – zu wenige, aber immerhin. Es ist ein Indiz, dass es in der vor lauter Gewalt taumelnden Gesellschaft noch moralische Ressourcen gibt.

Freundschaft bedeutet angesichts dieses blutigen Desasters, mit Augenmaß Druck aufzubauen. Es bewegt sich etwas im Westen – spät und langsam. Europa ist Israels wichtigster Handelspartner, die EU will nun das Assoziierungs­abkommen überprüfen. Brüssel zeigt Netanjahu damit die Instrumente. Auch wenn offen ist, ob sie zum Einsatz kommen. Dies ist mehr als der unverbindliche Appell in Richtung Israel, auf den man sich in Berlin verständigt hat – es ist eine Drohung. Auch Frankreich, Großbritannien und Kanada stellen, ähnlich wie die EU, Taten in Aussicht. Wenn Israel den „völlig unverhältnismäßigen“ Krieg in Gaza nicht stoppe, werde man zu „gezielten Sanktionen“ greifen. Sogar der britische Premier Keir Starmer hat das unterschrieben. Merz nicht.

Berlin hat die Wahl: Wenn Israel den Krieg mit Hunger und Bomben fortsetzt, dann kann, dann muss auch die Bundesregierung eindeutig reagieren. Also keine Waffenlieferungen mehr, kein privilegierter Handel mit der EU, Anerkennung Palästinas. Damit würde man der demokratischen Opposition in Israel signalisieren: Wir unterstützen euch. Womöglich könnte dies sogar den Kräften in der Netanjahu-Regierung, die nicht rechtsextrem sind, innenpolitisch eine Brücke bauen: Man hätte den Krieg ja fortgesetzt, aber leider waren die internationalen Kosten zu hoch.

Sanktionen sind kein Zauberstab. Aber in diesem Fall sind konditionierte Drohungen weit erfolgversprechender als die achselzuckende Ratlosigkeit, die lauen Appelle, die müden Verweise auf die deutsche Staatsräson. Die Alternative ist, dass Merz an der Seite der „Lichtgestalten“ Donald Trump, Viktor Orbán und Javier Milei zur schrumpfenden Schar der bedingungslosen Unterstützer Israels zählt. Wenn das die Conclusio der Vergangenheitsbewältigung ist, auf die man hierzulande so stolz ist – dann ist etwas fundamental falsch gelaufen.

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Stefan Reinecke
Korrespondent Parlamentsbüro
Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.
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5 Kommentare

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  • "In Deutschland beruft man sich mit zerfurchter Stirn auf die NS-Geschichte, die Pflichten mit sich bringe"

    Und aus den Trümmern dieser Geschichte entstand das Fundament für eine völkerrechtszentrierte Weltordnung deren oberstes Prinzip ist, dass die Würde des Menschen unantastbar ist.

    Dieses Prinzip zu verteidigen ist die Pflicht die Deutschland aus der NS Geschichte auferlegt wurde. Sie steht an erster Stelle, ist universell gültig und nicht an Staaten oder Nationen gebunden.

    Eine historische Verpflichtung besteht auch nicht daraus einen Staat und seine Regierung zu unterstützen, die Hunger als Kriegswaffe einsetzen und ethnische Säuberungen planen.

    Da die innerdeutschen Debatten darüber sich im eigentlichen Sinne auch lediglich um die eigenen Befindlichkeiten drehen, verwundert es nicht, dass Konsequenzen ausbleiben.

    Einen Kurswechsel in Form von Sanktionen oder Anerkennung Palästinas wird es mit dieser deutschen Regierung nicht geben. Das ist allgemein bekannt und deswegen wird Deutschland in dieser Frage nicht nur von den Europäern aussenvorgelassen. Die Glaubwürdigkeit ist längst dahin.

  • Ok Ok - mal als Folie zum Gegenlesen! Newahr



    Deniz Yücel



    taz.de/Kolumne-Bes...C3%BCcel%2BIsrael/



    “Kolumne Besser



    Der Holocaust, Israel und du



    Deniz Yücel



    Kolumne Besser



    von Deniz Yücel



    Vor lauter nachträglicher Empathie für die ermordeten Juden hast du keine für die lebenden – jedenfalls keine, die ohne ein großes „Aber“ auskäme.



    …Aber du hast es auch nicht leicht. Du weißt, dass deine Vorfahren nicht ganz koscher waren; logisch, du bist ja nicht blöd. Natürlich hast du dich mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Du hast um Anne Frank getrauert und mit den Schindlerjuden gefiebert. Du hast eine ansehnliche Sammlung Judaica und ausgewählte Klezmer-Alben im Regal.

    Du weißt zwar nicht exakt, was Opa an der Ostfront gemacht hat (und nicht, ob er vielleicht auch ein bisschen Widerstand war), aber nachdem Opa unter der Erde und das Erbe eingestrichen war und auch sonst kein Parteigenosse mehr herumspukte, hast du die Geschichte deines Dorfs, deines Instituts, deiner Firma, deiner Behörde und deines Fußballklubs aufgearbeitet. In der Aufarbeitung von Geschichte macht dir niemand etwas vor.

    Du hast Jürgen Habermas’ Rat im „Historikerstreit“ befolg

  • Deutsche Doppelmoral: Flüchtlinge und Territorium – Ein Vergleich mit Israel**

    Deutschland hat in beiden Weltkriegen andere Länder angegriffen, unermessliches Leid verursacht und schließlich die Kriege verloren. Als Konsequenz musste das Land große Gebiete abtreten – etwa Ostpreußen, Schlesien oder das Sudetenland. Millionen Deutsche wurden vertrieben oder flohen, doch sie fanden Aufnahme in Deutschland und wurden integriert. Heute fordert Deutschland weder diese Territorien zurück noch verlangt es finanzielle Entschädigungen von den Ländern, in denen diese Gebiete heute liegen.

    **Doch warum gilt dieser Maßstab nicht für Israel?**

    - **Deutsche Vertriebene vs. Palästinensische Flüchtlinge:**



    Die deutschen Vertriebenen wurden in Deutschland aufgenommen und in die Gesellschaft integriert. Niemand fordert heute eine "Rückkehr" nach Polen oder Tschechien. Im Gegensatz dazu wird von Israel verlangt, palästinensische Flüchtlinge und ihre Nachkommen aufzunehmen – obwohl viele dieser Menschen nie in Israel lebten und ihre "Rückkehr" die Existenz des jüdischen Staates bedrohen würde.

  • Jedes Einknicken vor der palästinensischen Propagandamaschine bestärkt die Hamas darin, durchzuhalten, die Geiseln weiter festzuhalten und weiter, verschanzt hinter ihrer eigene Bevölkerung als menschliche Schutzschilde, Israel zu terrorisieren. Frieden gibt es erst, wenn die Hamas aufgibt.

    • @PeterArt:

      Sie scheinen den Verlautbarungen israelischer Politiker nicht zu glauben. Da irren Sie aber.



      Außerdem ist die Hamas in WJ nicht an der Macht, dennoch wird WJ langsam aber sicher angeeignet. Wie lautet Ihr Vorschlag, dies zu stoppen?